Wallander 06 - Die fünfte Frau
nicht benötigt wurde, hätte er sich zeigen müssen. Er wußte nicht richtig, ob er es verdrängt hatte, weil es ihm unangenehm war, oder ob er keine Zeit gehabt hatte.
Er war vor Runfelts Haustür stehengeblieben. Die Straße war menschenleer. Er hatte das Bedürfnis, sich den Hergang auszumalen. Er stellte sich vor die Haustür und blickte sich um. Dann ging er hinüber auf die andere Straßenseite und tat das gleiche.
Runfelt befindet sich auf der Straße. Der Zeitpunkt ist noch unklar. Er kann am Abend oder in der Nacht aus der Haustür gekommen sein. Da hatte er seinen Koffer nicht bei sich. Etwas anderes hat ihn bewogen, die Wohnung zu verlassen. Wenn er dagegen am
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Morgen aus der Tür gekommen ist, hatte er seinen Koffer bei sich. Die Straße ist leer. Er stellt den Koffer auf den Bürgersteig. Von welcher Seite kommt das Taxi? Wartet er vor der Haustür, oder geht er über die Straße? Etwas geschieht. Runfelt und sein Koffer verschwinden. Der Koffer wird an der Straße nach Höör gefunden. Runfelt selbst hängt tot an einen Baum gebunden in der Nähe von Marsvinsholm.
Wallander betrachtete die Eingänge links und rechts des Hauses. Keiner davon war so tief, daß ein Mensch sich darin verstecken konnte. Er betrachtete die Straßenlaternen. Die, die Gösta Runfelts Haustür beleuchteten, waren intakt. Ein Auto, dachte er. Ein Auto hat hier gestanden, direkt vor der Haustür. Runfelt kommt auf die Straße. Jemand steigt aus. Wenn Runfelt Angst bekommen hätte, müßte er sich durch Geräusche bemerkbar gemacht haben. Das hätte der aufmerksame Nachbar gehört. Wenn es ein unbekannter Mensch ist, war Runfelt vielleicht nur erstaunt. Der Mann ist auf Runfelt zugegangen. Hat er ihn niedergeschlagen? Ihn bedroht? Wallander dachte an Vanja Anderssons Reaktion draußen im Wald. Runfelt war in der kurzen Zeit seines Verschwindens stark abgemagert. Wallander war überzeugt davon, daß dies von der Gefangenschaft herrührte. Aushungern. Mit Gewalt, bewußtlos oder unter Drohungen ist Runfelt zu dem Auto gebracht worden. Dann ist er verschwunden. Der Koffer wird an der Straße nach Höör gefunden. Direkt am Straßenrand.
Wallanders erster Eindruck, als er an den Fundort kam, war gewesen, daß der Koffer dort abgelegt worden war, um gefunden zu werden.
Wieder dieses demonstrative Moment.
Wallander ging zurück zur Haustür. Fing noch einmal von vorn an.
Runfelt kommt auf die Straße. Er will eine Reise machen, auf die er sich freut. Er will nach Afrika fliegen, um Orchideen anzusehen.
Wallander wurde in seinem Gedankengang durch ein vorbeifahrendes Auto unterbrochen.
Er begann, vor der Haustür auf und ab zu gehen. Er dachte an die Möglichkeit, daß Runfelt vor zehn Jahren seine Frau getötet hatte. Ein Loch im Eis vorbereitet hatte und sie einbrechen |321| ließ. Er war ein brutaler Mensch gewesen. Hatte die Mutter seiner Kinder mißhandelt. Nach außen ist er ein freundlicher Blumenhändler mit einer Leidenschaft für Orchideen. Und jetzt will er nach Nairobi fliegen. Alle, die in den Tagen vor seiner Abreise mit ihm gesprochen haben, bezeugen einstimmig seine aufrichtige Vorfreude. Ein freundlicher Mann und ein Monster zugleich.
Wallander dehnte seinen Spaziergang bis zum Blumenladen aus. Dachte an den Einbruch. Den Blutfleck auf dem Fußboden. Zwei oder drei Tage nachdem Runfelt zuletzt gesehen worden ist, bricht jemand ein. Nichts wird gestohlen. Nicht einmal eine Blume. Auf dem Fußboden ist Blut.
Wallander schüttelte resigniert den Kopf. Da war etwas, was er nicht sah. Eine Schicht verdeckte die andere. Gösta Runfelt, Orchideenliebhaber und Monstrum. Holger Eriksson, Vogelbeobachter, Dichter und Autohändler. Auch er umgeben von dem Ruf, brutal mit anderen Menschen umgegangen zu sein.
Die Brutalität vereint sie, dachte Wallander.
Richtiger gesagt, die verborgene Brutalität. In Runfelts Fall klarer als in Erikssons. Aber es gibt Ähnlichkeiten.
Er ging wieder zurück zur Haustür.
Runfelt kommt auf die Straße. Stellt den Koffer hin. Wenn es am Morgen ist. Was tut er dann? Er wartet auf ein Taxi. Aber als das kommt, ist er schon verschwunden.
Wallander hielt mitten im Schritt inne.
Runfelt wartet auf ein Taxi.
Kann ein anderes Taxi gekommen sein? Ein falsches Taxi? Runfelt weiß nur, daß er einen Wagen bestellt hat, nicht welcher Wagen kommt. Auch nicht, wer der Fahrer ist. Er steigt ein. Der Fahrer ist ihm behilflich mit dem Koffer. Dann fahren sie in Richtung Malmö. Aber sie kommen
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