Wallander 06 - Die fünfte Frau
Hügel, der plötzlich da war. Gräbt man an einer Stelle, wird der Boden an einer anderen aufgeworfen. Ich denke nicht an ein Grab, aber zum Beispiel an einen Graben. Oder etwas anderes.«
»Wir reden von Dingen, die fast dreißig Jahre zurückliegen«, sagte Nyberg. »Wer hat so ein Gedächtnis?«
»Es kommt vor«, sagte Wallander. »Aber wir müssen es natürlich herausfinden. Wer also hat Holger Erikssons Land bewirtschaftet?«
»Dreißig Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Hansson. »Es können mehrere Personen sein.«
»Dann müssen wir mit allen reden«, sagte Wallander. »Wenn wir sie zu fassen kriegen. Wenn sie noch leben.«
Sie gingen weiter. Wallander fiel plötzlich ein, daß er im Haus ein paar alte Luftaufnahmen des Hofes gesehen hatte. Er bat Hansson, in Lund anzurufen und jemand mit den Schlüsseln kommen zu lassen.
»Es ist kaum wahrscheinlich, daß jemand morgens um Viertel nach sieben da ist.«
»Dann sprich mit Ann-Britt Höglund«, sagte Wallander.
»Bitte sie, den Anwalt anzurufen, Erikssons Testamentsvollstrecker. Er hat vielleicht noch Schlüssel.«
»Vielleicht sind Anwälte Frühaufsteher«, sagte Hansson zweifelnd und wählte die Nummer.
»Ich muß diese Luftaufnahmen sehen«, sagte Wallander. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Sie gingen weiter. Hansson telefonierte mit Ann-Britt Höglund. Das Terrain wurde jetzt abschüssig. Der Nebel war so dicht wie vorher. Von irgendwo kam das Geräusch eines Traktors und verklang wieder. Hanssons Telefon summte. Ann-Britt Höglund hatte mit dem Anwalt gesprochen, aber er hatte die Schlüssel bereits abgegeben. Sie hatte versucht, jemand in Lund zu erreichen, aber bisher ohne Erfolg. Sie versprach, sich wieder zu melden. Wallander fielen die beiden Frauen ein, die er vor einer Woche hier getroffen hatte. Mit einem unguten Gefühl erinnerte er sich an die dünkelhafte Adelsdame.
|458| Sie brauchten fast zwanzig Minuten, um an die nächste Grenzlinie zu gelangen. Hansson zeigte sie auf der Karte. Sie befanden sich jetzt am südwestlichen Ende. Der Besitz erstreckte sich noch einmal fünfhundert Meter nach Süden, aber diesen Teil hatte Holger Eriksson 1976 dazugekauft. Sie gingen nach Osten und näherten sich jetzt dem Graben und dem Hügel mit dem Vogelturm. Wallander spürte, wie sein Unbehagen wuchs. Er glaubte, bei den anderen die gleiche stille Reaktion zu bemerken.
Es wurde zu einem Bild seines Lebens, dachte er. Mein Leben als Polizeibeamter in Schweden in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ein früher Morgen. Dämmerung. Herbst, Nebel, klamme Kälte. Vier Männer, die durch den Lehm stapfen. Sie nähern sich einer unbegreiflichen Raubtierfalle, wo ein Mann auf exotischen Bambusstangen aufgespießt worden ist. Gleichzeitig suchen sie nach einem denkbaren Ort für ein Grab einer polnischen Frau, die seit siebenundzwanzig Jahren verschwunden ist.
In diesem Lehm werde ich umherstapfen, bis ich falle. An anderen Plätzen im Nebel hocken Menschen an ihren Küchentischen und organisieren Bürgerwehren. Wer sich im Nebel verfährt, riskiert es, totgeschlagen zu werden.
Er merkte, daß er in Gedanken ein Gespräch mit Rydberg führte. Wortlos, aber doch ganz lebendig. Rydberg saß auf seinem Balkon, es war das letzte Krankheitsstadium. Der Balkon schwebte vor ihm wie ein Luftschiff im Nebel. Aber Rydberg antwortete nicht. Er hörte nur mit seinem schiefen Lächeln zu. Sein Gesicht war schwer von der Krankheit gezeichnet.
Plötzlich waren sie da. Wallander ging als letzter. Der Graben lag neben ihnen. Jetzt waren sie an der Pfahlgrube. Ein abgerissener Streifen des Absperrungsbandes der Polizei war unter einer der herabgefallenen Planken eingeklemmt. Ein unaufgeräumter Tatort, dachte Wallander. Die Bambusstäbe waren fort. Er fragte sich, wo sie aufbewahrt wurden. Im Keller des Polizeipräsidiums? Im Kriminaltechnischen Labor in Linköping? Der Vogelturm stand rechts von ihnen. Er war im Nebel kaum zu sehen.
Wallander merkte, wie ein Gedanke in seinem Kopf Form annahm. Er trat ein paar Schritte zur Seite und wäre beinah im |459| Lehm ausgerutscht und gefallen. Nyberg starrte in den Graben. Hamrén und Hansson diskutierten leise über ein Detail auf der Karte.
Jemand beobachtet Holger Eriksson und seinen Hof, dachte Wallander. Jemand, der weiß, was Krista Haberman zugestoßen ist, einer seit siebenundzwanzig Jahren verschwundenen Frau, die für tot erklärt wurde. Eine Frau, die irgendwo in einem Acker begraben liegt.
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