Wallander 06 - Die fünfte Frau
unmöglichen Routine festzuhalten, die keinen Anfang und kein Ende hatte. Weil das Licht nicht wechselte – es war gleichbleibend dunkel, und er war aufgewacht, wo er lag, gefesselt und auf dem Rücken – und er keine Erinnerung hatte, wie er hierhergekommen war, gab es keinen Anfang. Er hätte da, wo er lag, geboren sein können.
|57| In diesem Gefühl hatte der Wahnsinn seinen Ursprung. Während der kurzen Augenblicke, in denen es ihm gelang, die Panik von sich fernzuhalten und klar zu denken, versuchte er, sich an alles zu klammern, was mit der Wirklichkeit zu tun zu haben schien.
Es gab etwas, wovon er ausgehen konnte.
Das, worauf er lag. Das war keine Einbildung. Er wußte, daß er auf dem Rücken lag, und zwar auf etwas Hartem.
Das Hemd war über der linken Hüfte hochgerutscht, und seine Haut berührte direkt die harte rauhe Fläche. Er spürte, daß er sich die Haut aufgeschrammt hatte, als er versuchte, sich zu bewegen. Er lag auf einem Zementboden. Warum lag er da? Wie war er dorthin gekommen? Er ging in Gedanken zurück zu dem letzten normalen Ausgangspunkt, den er hatte, bevor das plötzliche Dunkel über ihn hereingebrochen war. Aber schon da wurde alles unklar. Er wußte, was geschehen war. Und doch wieder nicht. Als er angefangen hatte, unsicher zu werden, was Einbildung und was tatsächlich passiert war, überkam ihn die Panik. Dann fing er an zu weinen, kurz und heftig, aber er hörte genauso schnell wieder auf, weil ihn doch niemand hören konnte. Er hatte nie geweint, wenn ihn keiner hörte. Es gab Menschen, die nur weinten, wenn niemand in der Nähe war. Aber zu denen gehörte er nicht.
Eigentlich war er sich nur dessen sicher: daß niemand ihn hören konnte. Wo er sich auch befand, wo dieser gräßliche Zementboden auch gegossen sein mochte, ob er auch frei in einem ihm vollkommen unbekannten Universum schwebte – es war niemand in der Nähe. Niemand, der ihn hören konnte.
Jenseits des schleichenden Wahnsinns fanden sich die einzigen Anhaltspunkte, die ihm geblieben waren. Alles andere war ihm genommen, nicht nur seine Identität, sondern auch seine Hosen.
Es war der Abend gewesen, bevor er nach Nairobi fliegen wollte. Es war kurz vor Mitternacht, er hatte den Koffer zugemacht und sich an den Schreibtisch gesetzt, um noch einmal seine Reiseunterlagen zu überprüfen. Er sah alles noch ganz klar vor sich. Ohne es zu wissen, hatte er sich also in einem Warteraum des Todes befunden, den ein unbekannter Mensch für ihn vorbereitet hatte. Der Paß lag links auf der Schreibtischplatte, in der
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Hand hatte er die Flugscheine. Auf seinem Schoß lag die Plastikmappe mit den Dollarnoten, den Kreditkarten und Reiseschecks, die er noch kontrollieren wollte. Dann klingelte das Telefon. Er hatte alles hingelegt, den Hörer abgenommen und sich gemeldet.
Weil es die letzte lebende Stimme war, die er gehört hatte, hielt er sich mit aller Kraft daran fest. Sie war das letzte Verbindungsglied zu der Wirklichkeit, die den Wahnsinn noch auf Distanz hielt.
Es war eine schöne Stimme gewesen, sehr weich und angenehm, und er wußte sofort, daß er mit einer Fremden sprach. Einer Frau, die er noch nie im Leben getroffen hatte.
Sie hatte darum gebeten, Rosen kaufen zu können. Zuerst hatte sie sich entschuldigt, daß sie so spät am Abend noch störe. Aber sie brauche diese Rosen unbedingt. Sie sagte nicht, warum. Aber er hatte ihr sogleich geglaubt. Kein Mensch konnte lügen, wenn es darum ging, daß er Rosen brauchte. Er konnte sich nicht erinnern, daß er sie oder sich selbst gefragt hatte, was los war, warum sie erst so spät am Abend darauf gekommen war, daß sie Rosen brauchte, obwohl kein Blumengeschäft mehr geöffnet war.
Aber er hatte nicht gezögert. Er wohnte in der Nähe seines Ladens, er war noch nicht im Bett. Es würde nur zehn Minuten dauern, ihr zu helfen.
Als er jetzt hier im Dunkeln lag und sich zu erinnern versuchte, sah er ein, daß hier ein Punkt war, den er nicht erklären konnte.
Er hatte die ganze Zeit gewußt, daß sie von irgendwo in der Nähe anrief. Es gab einen Grund, der ihm unbekannt war, daß sie gerade ihn angerufen hatte.
Wer war sie? Was war danach geschehen?
Er hatte seinen Mantel angezogen und war auf die Straße gegangen. Die Schlüssel zum Geschäft hatte er in der Hand. Es war windstill, ein kühler Duft schlug ihm entgegen, als er die nasse Straße entlangging. Es hatte früher am Abend geregnet, ein heftiger Wolkenbruch, der ebensoschnell verschwand, wie
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