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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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er gekommen war. Er war vor der Ladentür stehengeblieben, die von der Straße aus ins Geschäft führte. Er erinnerte sich daran, daß er aufgeschlossen hatte und hineingegangen war. Dann war die Welt explodiert.
    |59| Wie oft er in Gedanken schon die Straße entlanggegangen war – wenn die Panik für einen Augenblick nachließ, ein Ruhepunkt in dem konstanten und in Wellen kommenden Schmerz   –, wußte er nicht mehr. Es mußte jemand dagewesen sein.
Ich hatte erwartet, daß eine Frau vor dem Laden stünde. Aber da stand niemand, Ich hätte umkehren und nach Hause gehen können. Ich hätte wütend werden können, weil jemand sich einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hatte. Aber ich schloß den Laden auf, weil ich wußte, daß sie kommen würde. Sie hatte gesagt, daß sie die Rosen wirklich brauchte.
    Keiner lügt, wenn es um Rosen geht.
    Die Straße war verlassen. Das wußte er mit Sicherheit. Nur ein Detail in dem Bild beunruhigte ihn. Irgendwo hatte ein Auto gestanden, mit eingeschalteten Scheinwerfern. Als er sich zur Tür gewandt hatte, um das Schlüsselloch zu suchen, war das Auto hinter ihm gewesen. Und die Scheinwerfer an. Und dann war die Welt in einem scharfen, weißen Licht untergegangen.
    Es gab nur eine Erklärung, und die machte ihn hysterisch vor Angst. Er mußte überfallen worden sein. Hinter ihm im Schatten war jemand gewesen, den er nicht gesehen hatte. Aber eine Frau, die eines Abends anruft und um Rosen bittet?
    Weiter kam er nicht. Da hörte alles auf, was begreiflich und mit Vernunft nachvollziehbar war. Und da war es ihm mit einer gewaltigen Anstrengung gelungen, die gefesselten Hände zum Mund zu drehen, so daß er anfangen konnte, an den Tauen zu nagen. Anfangs hatte er an den Tauen gezerrt und gerissen, als wäre er ein hungriges Raubtier, das sich auf eine Beute warf. Fast unmittelbar hatte er sich einen Zahn im linken Unterkiefer ausgebissen. Der Schmerz war im ersten Moment heftig, verschwand dann aber rasch. Als er wieder anfing, an den Tauen zu nagen – und er hatte tatsächlich an sich selbst als an ein gefangenes Raubtier gedacht, das sein eigenes Bein abbeißt, um zu entkommen   –, ging er langsam vor.
    An den trockenen und harten Tauen zu nagen war wie eine tröstende Hand. Wenn er sich nicht befreien konnte, so hielt er durch das Nagen zumindest den Wahnsinn auf Abstand. Er konnte auf dem Tau kauen und gleichzeitig einigermaßen klar denken. Er war |60| überfallen worden. Er wurde gefangengehalten und lag auf einem Boden. Zweimal pro Tag, oder vielleicht pro Nacht, hörte er ein scharrendes Geräusch neben sich. Eine behandschuhte Hand zwang seinen Mund auf und flößte ihm Wasser ein. Die Hand an seinem Kiefer war eher bestimmt als grob. Dann wurde ein Trinkhalm in seinen Mund gesteckt. Er saugte eine lauwarme Suppe in sich hinein und wurde danach wieder in der Finsternis und in dem Schweigen allein gelassen.
    Er war überfallen worden, er war gefesselt. Unter ihm ein Zementfußboden. Jemand hielt ihn am Leben. Er nahm an, schon eine Woche hier zu liegen. Er versuchte zu verstehen, warum. Es mußte ein Irrtum vorliegen. Aber was für ein Irrtum? Warum sollte ein Mensch gefesselt auf einem Zementboden liegen? Irgendwo in seinem Kopf ahnte er, daß der Wahnsinn seinen Ausgangspunkt in einer Einsicht hatte, die er ganz einfach nicht an sich heranzulassen wagte. Es war kein Irrtum. Das Grauenvolle, das ihm geschah, war gerade ihm zugedacht, keinem anderen, und wie sollte das enden? Vielleicht ginge der Alptraum ewig weiter, und er wußte nicht, warum.
    Zweimal am Tag oder in der Nacht bekam er Wasser und Essen. Zweimal wurde er auch an den Füßen über den Boden gezogen, bis er zu einem Loch im Fußboden kam. Er hatte keine Hose an. Sie war verschwunden. Er hatte nur das Hemd, und wenn er fertig war, wurde er zurückgezogen an die alte Stelle. Er hatte nichts, um sich abzuwischen. Außerdem waren die Hände gefesselt. Er merkte, daß es um ihn herum roch. Unflat. Aber auch Parfüm.
    War das ein Mensch in seiner Nähe? Die Frau, die Rosen kaufen wollte? Oder nur ein Paar Hände mit Handschuhen? Hände, die ihn zu dem Loch im Boden zogen. Und ein schwacher, beinahe unmerklicher Duft von Parfüm, der nach den Mahlzeiten und nach den Toilettenbesuchen in der Luft hing. Irgendwoher mußten die Hände und das Parfüm kommen.
    Natürlich hatte er versucht, zu den Händen zu sprechen. Irgendwo mußte ein Mund sein. Und Ohren. Wer immer ihm dies auch antat, mußte sich doch

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