Wallander 06 - Die fünfte Frau
anhören können, was er zu sagen hatte. Jedesmal wenn er die Hände an seinem Gesicht oder an seinen Schultern fühlte, hatte er auf verschiedene Weise zu |61| sprechen versucht. Er hatte gefleht, er hatte gebrüllt, er hatte versucht, sein eigener Anwalt zu sein und sich ruhig und überlegt zu äußern.
Es gab ein Recht
, hatte er betont, manchmal schluchzend, dann wieder rasend.
Ein Recht, das auch der gefesselte Mensch besitzt. Das Recht, zu wissen, warum er vollständig rechtlos geworden ist. Wenn man einen Menschen dieses Rechts beraubt, hat das Universum keinen Sinn mehr.
Er hatte nicht einmal verlangt, freigelassen zu werden. Er wollte zunächst nur wissen, warum er gefangen war. Nichts anderes. Aber zumindest das.
Er hatte keine Antwort bekommen. Die Hände hatten keinen Körper, keinen Mund, keine Ohren. Schließlich hatte er gebrüllt und außer sich vor Verzweiflung geschrien. Aber die Hände hatten keine Reaktion erkennen lassen. Da war nur der Trinkhalm im Mund. Und der schwache Duft eines herben Parfüms.
Er ahnte, daß er untergehen würde. Das einzige, was ihn noch hielt, war sein hartnäckiges Kauen an dem Tau. Auch jetzt, nach einer Zeitspanne, die mindestens eine Woche umfaßte, war es ihm noch kaum gelungen, sich durch das harte Äußere des Taus zu nagen. Aber dennoch stellte er sich hier die einzig denkbare Rettung vor. Er überlebte, indem er nagte. Nach einer weiteren Woche hätte er von der Reise zurückkehren sollen, die er jetzt halb hinter sich hätte, wäre er nicht zum Laden hinuntergegangen, um einen Armvoll Rosen zu holen. Er wäre tief in einem kenianischen Orchideenwald, das Bewußtsein von den schönsten Düften erfüllt. In einer Woche würde man ihn zurückerwarten. Und wenn er nicht käme, würde Vanja Andersson sich wundern. Wenn sie das nicht bereits tat. Es gab noch eine Möglichkeit, von der er nicht ablassen konnte. Das Reisebüro wußte über seine Kunden Bescheid. Er hatte seine Tickets bezahlt, sich aber in Kastrup nicht eingefunden. Vanja Andersson und das Reisebüro waren seine einzige Rettung. In der Zwischenzeit würde er an dem Tau nagen, um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. Soviel davon noch da war.
Er wußte, daß er sich in der Hölle befand. Aber nicht, warum. |62| Die Angst saß in seinen Zähnen, die auf dem harten Tau kauten. Die Angst und die einzige denkbare Rettung.
Er kaute weiter.
Zwischendurch weinte er. Hatte Krämpfe. Trotzdem nagte er weiter.
Sie hatte den Raum als Opferplatz arrangiert.
Niemand konnte das Geheimnis ahnen. Niemand, der es nicht wußte. Und sie war die einzige, die es wußte.
Einst hatte der Raum aus vielen kleinen Zimmern bestanden. Mit niedrigen Decken, düsteren Wänden, nur beleuchtet von dem zaghaften Licht, das durch die Fensterluken in den dicken Mauern sickerte. So hatte es ausgesehen, als sie zum erstenmal hier war. Auf jeden Fall in ihren frühesten Erinnerungen. Sie konnte sich jenen Sommer immer noch in Erinnerung rufen. Damals hatte sie ihre Großmutter zum letztenmal gesehen. Früh im Herbst war sie fort. Aber in jenem Sommer saß sie noch im Schatten der Apfelbäume und war selbst in einen Schatten verwandelt. Sie war fast neunzig Jahre alt und hatte Krebs. Den ganzen Sommer hindurch saß sie unbeweglich, unerreichbar für die Welt, und die Enkel waren angehalten, sie nicht zu stören. Nicht in ihrer Nähe schreien, nur zu ihr gehen, wenn sie nach ihnen rief.
Einmal hatte Großmutter die Hand gehoben und sie zu sich gewinkt. Sie hatte sich ihr mit Furcht genähert. Das Alter war gefährlich, es bedeutete Krankheiten und Tod, dunkle Gräber und Furcht. Aber ihre Großmutter hatte sie nur mit ihrem sanften Lächeln angesehen, das zu zerstören dem Krebs nie gelang.
Vielleicht hatte sie etwas gesagt, sie konnte sich nicht erinnern. Aber ihre Großmutter war dagewesen, und es war ein glücklicher Sommer. Es mußte 1952 oder 1953 gewesen sein. Eine unendlich entlegene Zeit. Die Katastrophen waren noch weit entfernt gewesen.
Damals waren die Zimmer klein. Erst als sie selbst Ende der sechziger Jahre das Haus übernahm, begann die große Verwandlung. Beim Einreißen der Innenwände, die ohne Risiko, daß das |63| Haus einstürzte, geopfert werden konnten, halfen einige ihrer Cousins, junge Männer, die ihre Kraft zeigen wollten. Doch sie hatte auch selbst den Vorschlaghammer geschwungen, daß das ganze Haus bebte und der Putz von den Wänden fiel. Aus dem Staub war am Ende dieser große Raum
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