Wallander 06 - Die fünfte Frau
falschen Zeitpunkt geschehen war. Obwohl er achtzig Jahre alt war, war es zu früh. Es hätte später kommen sollen. Nicht jetzt. Nicht so. Als Wallander da im Atelier stand, hatte er versucht, seinen Vater zu schütteln. Aber es war umsonst. Der Auerhahn würde unvollendet bleiben.
Doch inmitten des Chaos, des inneren wie des äußeren, hatte Wallander seine Fähigkeit, ruhig und rational zu handeln, beibehalten. Gertrud war im Krankenwagen mitgefahren. Wallander |158| war ins Atelier zurückgegangen, hatte dort in dem Schweigen und im Terpentingeruch gestanden und geweint beim Gedanken daran, daß der Vater den Auerhahn nicht unvollendet hätte lassen wollen. Als eine Geste des Einverständnisses über die unsichtbare Grenze von Leben und Tod nahm Wallander den Pinsel und füllte die beiden weißen Punkte aus, die im Federkleid des Auerhahns noch fehlten. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er mit einem Pinsel ein Bild seines Vaters anrührte. Dann reinigte er den Pinsel und stellte ihn zu den anderen in ein altes Einmachglas. Er verstand nicht, was geschehen war, er wußte nicht, was es für ihn bedeuten würde. Er wußte nicht einmal, wie er trauern sollte.
Er ging ins Haus und rief Ebba an. Sie war betroffen und unglücklich, und Wallander hatte Schwierigkeiten, etwas zu sagen. Schließlich bat er sie nur, den anderen mitzuteilen, was geschehen war. Sie sollten ganz normal ohne ihn weitermachen. Es reichte, wenn er informiert wurde, falls sich etwas Entscheidendes in der Ermittlung ergäbe. Er würde heute nicht mehr zur Arbeit zurückkommen. Wie es morgen würde, konnte er nicht sagen. Dann rief er seine Schwester Kristina an und teilte ihr die Todesnachricht mit. Sie sprachen lange miteinander. Es kam Wallander so vor, als habe sie sich auf eine ganz andere Weise als er darauf vorbereitet, daß der Vater plötzlich sterben könnte. Sie würde ihm helfen, Linda ausfindig zu machen, da er die Telefonnummer des Restaurants, in dem sie arbeitete, nicht kannte. Danach rief er Mona an. Sie arbeitete in einem Damenfrisiersalon in Malmö, dessen Namen er nicht genau wußte. Aber eine freundliche Frau bei der Auskunft konnte ihm weiterhelfen, als er sagte, worum es sich handelte. Er hörte, daß Mona erstaunt war, weil er anrief. Sofort hatte sie befürchtet, daß Linda etwas passiert sei. Als Wallander ihr vom Tod seines Vaters berichtete, spürte er, daß sie zumindest teilweise erleichtert war. Es empörte ihn. Aber er sagte nichts. Er wußte, daß Mona und sein Vater sich immer gut verstanden hatten. Es war nur natürlich, daß sie um Linda besorgt war. Er erinnerte sich an den Morgen, als die Estonia gesunken war.
»Ich kann mir vorstellen, wie es dir geht«, sagte sie. »Diesen Augenblick hast du dein ganzes Leben lang gefürchtet.«
|159| »Wir hatten noch viel zu reden«, antwortete er. »Jetzt, wo wir endlich zueinander zurückgefunden hatten. Und jetzt ist es zu spät.«
»Es ist immer zu spät«, sagte sie.
Sie versprach, zur Beerdigung zu kommen und ihm zu helfen, wenn er Hilfe brauchte. Als das Gespräch beendet war, fühlte er eine entsetzliche Leere in sich. Er wählte Baibas Nummer in Riga. Aber sie nahm nicht ab. Er rief immer wieder an. Aber sie war nicht da.
Schließlich ging er zurück ins Atelier. Er setzte sich auf den alten Tretschlitten, auf dem er zu sitzen pflegte, immer mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Es trommelte leicht aufs Dach. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Wallander spürte, daß seine eigene Todesfurcht zum Greifen nahe war. Das Atelier war schon in ein Grabgewölbe verwandelt. Hastig stand er auf und ging hinaus. Zurück in die Küche. Das Telefon läutete. Es war Linda. Sie weinte. Wallander begann auch zu weinen. Sie wollte so schnell wie möglich kommen. Wallander fragte, ob er bei ihrem Arbeitgeber anrufen und mit ihm sprechen solle. Aber Linda hatte bereits alles geregelt. Sie würde nach Arlanda hinausfahren und versuchen, noch am Nachmittag eine Maschine zu bekommen. Er versprach, sie abzuholen, aber sie sagte ihm, er solle bei Gertrud bleiben. Sie würde selbst nach Ystad und Löderup kommen.
Am Abend waren sie im Haus in Löderup versammelt, Gertrud war sehr ruhig. Gemeinsam sprachen sie über die Beerdigung. Wallander zweifelte, ob sein Vater eigentlich einen Pastor am Grab haben wollte. Aber Gertrud bestimmte. Sie war seine Witwe.
»Er hat nie vom Tod gesprochen«, sagte sie. »Ob er ihn gefürchtet hat oder nicht, kann ich nicht sagen. Er hat auch
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