Wallander 06 - Die fünfte Frau
Erinnerungsprotokoll über sein Gespräch mit Sven Tyrén.
Wenn sich die Gruppe wieder traf, würden sie über das, was bei |155| dem Gespräch herausgekommen war, gründlich diskutieren. Wallander war überzeugt, daß es wichtig war.
Als er fertig war mit seiner Zusammenfassung und den Schreibblock zuklappte, entdeckte er das Papier mit den Bleistiftnotizen; er hatte nun schon mehrmals vergessen, Svedberg das Blatt zurückzugeben. Jetzt wollte er es tun, bevor er etwas anderes anfing. Er nahm das Papier und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur hörte er, wie sein Telefon klingelte. Er zögerte einen Moment. Dann ging er zurück und nahm den Hörer ab.
Es war Gertrud. Sie weinte. »Du mußt kommen«, schluchzte sie.
Wallander wurde ganz kalt. »Was ist passiert?« fragte er.
»Dein Vater ist tot. Er liegt draußen zwischen seinen Bildern.«
Es war Viertel nach zehn, Montag, der 3. Oktober 1994.
|156| 12
Kurt Wallanders Vater wurde am 11. Oktober auf dem Nya Kyrkogården in Ystad begraben. Es war ein Tag mit stürmischem Wind und kräftigen Regenschauern, die dann und wann von sonnigen Abschnitten unterbrochen wurden. Auch jetzt, eine Woche nachdem Wallander am Telefon die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten hatte, fiel es ihm noch schwer zu verstehen, was geschehen war. Schon von dem Augenblick an, als er den Hörer auflegte, war die Weigerung, das Gehörte zu akzeptieren, dagewesen. Er konnte einfach nicht glauben, daß sein Vater sterben könnte. Nicht jetzt, so kurz nach der Reise nach Rom. Nicht jetzt, wo sie die Gemeinsamkeit wiedergefunden hatten, die ihnen vor so vielen Jahren verlorengegangen war. Wallander hatte das Polizeigebäude verlassen, ohne mit jemandem zu sprechen. Er war überzeugt, daß Gertrud sich irrte. Aber als er nach Löderup kam und ins Atelier rannte, wo es wie immer nach Terpentin roch, sah er sofort, daß Gertrud recht hatte. Sein Vater war nach vorn über ein Bild gefallen, an dem er gerade gemalt hatte. Im Todesaugenblick hatte er die Augen geschlossen und krampfhaft den Pinsel umklammert, mit dem er kleine weiße Tupfer in den Auerhahn malte. Wallander sah, daß er dabeigewesen war, das Bild abzuschließen, mit dem er am Tag zuvor, als sie den langen Spaziergang am Strand von Sandhammaren gemacht hatten, beschäftigt war. Der Tod war plötzlich gekommen. Gertrud konnte später, als sie sich so weit beruhigt hatte, daß sie wieder zusammenhängend sprach, erklären, daß er wie gewöhnlich gefrühstückt hatte. Alles war wie immer gewesen. Gegen halb sieben war er in sein Atelier gegangen. Als er um zehn nicht in die Küche kam, um wie jeden Tag Kaffee zu trinken, wollte sie ihn daran erinnern. Da war er bereits tot. Wallander hatte gedacht, daß der Tod immer stört, wenn er kommt. Der Tod kommt ungelegen, sei es, daß eine Tasse |157| Kaffee nicht getrunken wird, sei es, daß etwas anderes unterbrochen wird.
Sie hatten auf den Krankenwagen gewartet. Sie hatte seinen Arm umklammert. Wallander war innerlich vollkommen leer. Er empfand keine Trauer. Er empfand überhaupt nichts, außer einer unklaren Vorstellung, daß es ungerecht war. Seinen toten Vater konnte er kaum bedauern. Aber er konnte um seiner selbst willen trauern, die einzige Trauer, die möglich ist. Dann kam der Krankenwagen. Wallander kannte den Fahrer. Er hieß Prytz und hatte sofort verstanden, daß sie Wallanders Vater holen sollten.
»Er war nicht krank«, sagte Wallander. »Gestern sind wir noch am Strand spazierengegangen. Da klagte er über Unwohlsein. Sonst nichts.«
»Es war bestimmt ein Schlaganfall«, antwortete Prytz verständnisvoll. »Es sieht danach aus.«
Das war es auch, was die Ärzte Wallander später sagten. Alles war sehr schnell gegangen. Seinem Vater war wohl kaum bewußt geworden, daß er starb. Ein Blutgefäß in seinem Gehirn war geplatzt, und er war tot, bevor sein Kopf auf das noch nicht fertiggemalte Bild aufschlug. Gertruds Trauer und der Schock waren gemischt mit Erleichterung darüber, daß es so schnell gegangen war. Daß es ihm jetzt erspart blieb, in einem verwirrten Niemandsland dahinzudämmern.
Wallander hatte ganz andere Gedanken. Sein Vater war allein gewesen, als er starb. Niemand sollte allein sein müssen, wenn die letzte Stunde schlug. Er verspürte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht darauf reagiert hatte, daß dem Vater unwohl war. So etwas konnte einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall ankündigen. Aber das schlimmste war trotzdem, daß es zum
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