Wallander 06 - Die fünfte Frau
Andererseits wußte er, daß er ein guter |168| Orientierungsläufer war. Er hatte ein Gefühl für das Gelände und war schnell und ausdauernd. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte er seiner Mannschaft durch eine starke Leistung auf der letzten Strecke zum Sieg verholfen. Es fehlte nicht viel zu einer Nominierung für die Nationalmannschaft, und er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, eines Tages den Sprung nach oben zu schaffen und das Land bei internationalen Wettkämpfen zu repräsentieren.
Er sah den Film im Fernsehen, aber der war schlechter, als er erwartet hatte. Kurz nach elf machte er sich auf seine Runde. Er lief in einem Waldstück etwas nördlich vom Hof, an der Grenze der großen Ländereien von Marsvinsholm. Er konnte zwischen zwei Runden wählen, einer über acht und einer über fünf Kilometer. Da er müde war und früh am nächsten Morgen mit seinem Bagger los mußte, entschied er sich für die kürzere. Er setzte die Stirnlampe auf und lief los. Es hatte während des Tages geregnet, heftige Schauer, und hin und wieder hatte es sonnige Abschnitte gegeben. Jetzt am Abend waren sechs Grad plus. Der feuchte Boden duftete. Er lief auf dem Pfad im Waldesinnern. Die Baumstämme glitzerten im Schein der Stirnlampe. Tief drinnen im dichtesten Teil des Waldes war eine kleine Anhöhe. Wenn er direkt darüber hinweglief, bedeutete das eine Abkürzung. Er entschloß sich, die Abkürzung zu nehmen. Er wich vom Pfad ab und lief die Anhöhe hinauf.
Plötzlich blieb er stehen. Im Schein seiner Stirnlampe hatte er einen Menschen entdeckt. Zuerst begriff er nicht, was er sah. Dann erkannte er, daß zehn Meter vor ihm ein halbnackter Mann an einen Baum gebunden war. Lars Olsson stand wie angewurzelt. Er atmete schwer und fühlte, wie die Angst ihn überkam. Er blickte hastig um sich. Die Stirnlampe warf ihr Licht über Bäume und Büsche. Aber er war allein. Vorsichtig trat er ein paar Schritte vor. Der Mann hing in dem Seil. Der Oberkörper war nackt.
Lars Olsson brauchte nicht näher heranzugehen. Er sah, daß der Mann tot war. Ohne richtig zu wissen, warum, warf er einen Blick auf seine Uhr. Sie zeigte neunzehn Minuten nach elf.
Dann wandte er sich um und lief nach Hause. So schnell war er |169| noch nie gelaufen. Ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, die Stirnlampe abzulegen, rief er vom Telefon, das in der Küche an der Wand hing, die Polizei in Ystad an.
Der Polizist, der den Anruf entgegennahm, hörte genau zu. Danach zögerte er nicht. Er suchte Kurt Wallanders Namen auf seinem Bildschirm und rief ihn zu Hause an.
Es war inzwischen zehn Minuten vor Mitternacht.
|171| Schonen
12.–17. Oktober 1994
|173| 13
Wallander lag schlaflos im Bett und dachte darüber nach, daß sein Vater und Rydberg jetzt auf dem gleichen Friedhof lagen, als das Telefon klingelte. Er griff hastig nach dem Hörer neben seinem Bett, damit Linda nicht vom Klingeln geweckt würde. Mit einem Gefühl wachsender Ohnmacht hörte er dem Bericht des wachhabenden Beamten zu. Die Informationen waren noch spärlich. Die erste Polizeistreife war noch nicht an dem Platz im Wald südlich von Marsvinsholm angelangt. Es bestand natürlich die Möglichkeit, daß der nächtliche Orientierungsläufer sich geirrt hatte. Aber das war wenig wahrscheinlich. Der Beamte hatte ihn als ausgesprochen klar empfunden, obwohl er natürlich erregt war. Wallander versprach, sofort zu kommen. Er zog sich so leise wie möglich an. Aber als er am Küchentisch saß und eine Nachricht an Linda schrieb, erschien sie im Nachthemd.
»Was ist denn passiert?« fragte sie.
»Man hat draußen im Wald einen toten Mann gefunden«, antwortete er. »Und da mußten sie mich anrufen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hast du nie Angst?«
Er blickte sie fragend an. »Warum sollte ich Angst haben?«
»Wegen all denen, die sterben.«
Er ahnte mehr, was sie zu sagen versuchte, als daß er es verstand. »Ich kann nicht«, erwiderte er. »Das ist meine Arbeit. Jemand muß das hier tun.«
Er versprach, rechtzeitig zurück zu sein, um sie am Morgen zum Flugplatz zu fahren. Es war noch nicht eins, als er sich in den Wagen setzte. Und erst auf dem Weg nach Marsvinsholm kam ihm der Gedanke, daß der Tote dort draußen im Wald Gösta Runfelt sein könnte. Er hatte gerade die Stadt hinter sich gelassen, als sein Autotelefon schrillte. Der Anruf kam vom Polizeipräsidium. Die Vor-Ort-Streife hatte den Bericht bekräftigt. Es war wirklich ein toter Mann im Wald.
|174| »Ist er
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