Wallander 06 - Die fünfte Frau
eines Bücherregals untersuchte. »Hast du etwas von Gösta Runfelts Koffer gehört?«
»Hatte er einen Koffer?«
Wallander schüttelte den Kopf. »Vergiß es. Ich rede mit Nyberg.«
Er ging zurück ins Wohnzimmer. Vanja Andersson saß unbeweglich auf dem Sofa. Wallander sah ein, daß sie so schnell wie möglich wieder von hier fort wollte. Es hatte den Anschein, als müsse sie sich mit größter Überwindung dazu zwingen, die Luft in der Wohnung einzuatmen. »Wir kommen auf den Koffer später zurück«, sagte er. »Jetzt möchte ich Sie bitten, durch die Wohnung zu gehen und nachzusehen, ob irgend etwas fehlt.«
Sie blickte ihn erschrocken an. »Wie soll ich das sehen können? So oft war ich nicht hier.«
»Ich weiß«, sagte Wallander. »Aber es kann sein, daß Sie trotzdem merken, daß etwas fehlt. Es kann wichtig sein. Im Moment ist alles wichtig. Wenn wir den finden wollen, der das getan hat. Und das wollen Sie sicher genauso wie wir.«
Wallander hatte damit gerechnet. Dennoch kam es überraschend. Sie brach in Weinen aus. Svedberg erschien an der Tür des Arbeitszimmers. Wallander fühlte sich, wie stets in derartigen Situationen, vollkommen hilflos. Er fragte sich, ob die jetzigen Polizeianwärter im Laufe ihrer Ausbildung lernten, weinende Menschen zu trösten. Er würde Ann-Britt Höglund bei passender Gelegenheit danach fragen.
Svedberg kam mit einem Papiertaschentuch aus dem Badezimmer |209| und gab es ihr. Sie hörte ebenso abrupt auf zu weinen, wie sie angefangen hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber es ist so schwer.«
»Ich weiß«, sagte Wallander. »Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich glaube, daß die Menschen im allgemeinen viel zu wenig weinen.«
Sie sah ihn an.
»Das gilt auch für mich«, sagte er.
Nach einem kurzen Augenblick erhob sie sich vom Sofa. Sie war bereit anzufangen.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Wallander. »Versuchen Sie sich zu erinnern, wie es war, als Sie zuletzt hier waren. Um seine Blumen zu gießen. Lassen Sie sich Zeit.«
Er folgte ihr, hielt sich aber im Hintergrund. Als er Svedberg im Arbeitszimmer fluchen hörte, ging er zu ihm hinein und legte den Finger auf den Mund. Svedberg nickte, er verstand. Wallander hatte oft gedacht, daß wichtige Augenblicke in komplizierten Ermittlungen entweder während eines Gesprächs oder in absoluter Stille eintraten. Beides hatte er mehrfach erlebt. Jetzt ging es um Stille. Er konnte sehen, daß Vanja Andersson sich wirklich anstrengte.
Aber ohne Ergebnis. Sie kehrten zu ihrem Ausgangspunkt zurück, zum Sofa im Wohnzimmer. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich finde, daß alles ganz normal wirkt«, sagte sie. »Ich kann nicht sehen, ob irgend etwas fehlt oder verändert ist.«
Wallander war nicht verwundert. Er hätte bemerkt, wenn sie während ihres Rundgangs gestutzt hätte. »Sonst ist Ihnen nichts mehr eingefallen?« fragte er.
»Ich habe angenommen, daß er in Nairobi wäre«, sagte sie. »Ich habe seine Blumen gegossen und den Laden betreut.«
»Und beides haben Sie ausgezeichnet gemacht«, sagte Wallander. »Danke, daß Sie gekommen sind. Wir lassen sicher noch einmal von uns hören.«
Er begleitete sie zur Tür. Als sie gegangen war, kam Svedberg aus der Toilette.
»Es scheint nichts weg zu sein«, sagte Wallander.
»Er muß ein sonderbarer Mensch gewesen sein«, sagte Svedberg |210| nachdenklich. »Sein Arbeitszimmer ist eine eigenartige Mischung aus Chaos und pedantischer Ordnung. Was die Blumen angeht, scheint die Ordnung perfekt zu sein. Ich hätte nie gedacht, daß es so viel Literatur über Orchideen gibt. Aber was sein privates Leben angeht, ist alles ein einziges Durcheinander. In der Buchführung des Blumengeschäfts von 1994 habe ich eine Steuererklärung von 1969 gefunden. Damals hat er übrigens das schwindelerregende Einkommen von 30 000 Kronen versteuert.«
»Ich frage mich, was wir damals verdient haben«, sagte Wallander. »Kaum viel mehr. Vermutlich bedeutend weniger. Vielleicht hatten wir 2000 Kronen im Monat.«
Sie dachten kurz über ihr früheres Einkommen nach.
»Such weiter«, sagte Wallander dann.
Svedberg ging an seine Arbeit. Wallander stellte sich ans Fenster und blickte über den Hafen, als er ein Geräusch an der Wohnungstür hörte. Das mußte Ann-Britt Höglund sein, sie hatte Schlüssel. Er ging zu ihr in den Flur.
»Nichts Ernstes, hoffe ich?«
»Herbsterkältung«, sagte sie. »Mein Mann ist irgendwo in dem Land, das man früher Hinterindien nannte. Aber
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