Wallander 06 - Die fünfte Frau
Antwort zu geben. Er wußte sehr wohl, wie die Erklärung aussah. Das Land, in dem er aufgewachsen war, sein Schweden, das Land, das nach dem Krieg aufgebaut worden war, hatte nicht so felsenfest auf Urgestein gestanden, wie sie geglaubt hatten. Unter dem Ganzen hatte sich verdeckter Morast befunden. Schon damals waren die neuen Wohnblocksiedlungen als »unmenschlich« bezeichnet worden. Wie konnte man verlangen, daß Menschen, die dort lebten, ihre »Menschlichkeit« unversehrt bewahren würden? Die Gesellschaft war härter geworden, Menschen, die sich in ihrem eigenen Land überflüssig oder gar unwillkommen fühlten, reagierten mit Aggressivität und Verachtung. Wallander wußte, daß es keine sinnlose Gewalt gab. Jede Gewalt hatte für den, der sie ausübte, einen Sinn. Erst wenn man es wagte, diese Wahrheit zu akzeptieren, durfte man hoffen, die Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.
Er fragte sich auch, wie es in Zukunft möglich sein würde, Polizist zu sein. Viele seiner Kollegen überlegten ernsthaft, sich andere Beschäftigungen zu suchen. Martinsson hatte mehrfach davon geredet, Hansson hatte es einmal erwähnt, als sie in der Kantine saßen. Und Wallander selbst hatte vor einigen Jahren eine Annonce aus der Zeitung ausgeschnitten, in der eine freie Stelle |235| als Sicherheitsbeauftragter eines großen Unternehmens in Trelleborg angeboten wurde.
Wie Ann-Britt Höglund wohl darüber dachte? Sie war noch jung. Sie würde noch mindestens dreißig Jahre Polizeibeamtin sein. Er würde sie bei Gelegenheit danach fragen. Er mußte es wissen, um zu verstehen, wie er selbst es schaffen sollte.
Gleichzeitig war ihm bewußt, daß das Bild, das er sich machte, unvollständig war. Unter jungen Menschen hatte das Interesse am Polizeiberuf in den letzten Jahren stark zugenommen. Und diese Tendenz schien ungebrochen zu sein. Wallander kam mehr und mehr zu der Überzeugung, daß das Ganze eine Generationsfrage war. Er hatte das unklare Gefühl, lange recht gehabt zu haben. Schon Anfang der neunziger Jahre hatte er an warmen Sommerabenden häufig auf Rydbergs Balkon gesessen und mit ihm darüber gesprochen, wie der Polizist der Zukunft aussehen würde. Sie hatten ihre Gespräche auch während Rydbergs Krankheit und bis zuletzt weitergeführt. Nirgendwo hatten sie einen Punkt gemacht. Auch einig waren sie nicht immer gewesen. Aber darin stimmten sie stets überein, daß Polizeiarbeit letzten Endes darauf hinauslief, die Zeichen der Zeit zu deuten. Veränderungen zu verstehen und Bewegungen in einer Gesellschaft zu interpretieren.
Wallander hatte schon damals gedacht, daß er – ebenso wie er vieles richtig sah – sich auch in einem entscheidenden Punkt irrte: Es war nicht schwerer, heute Polizist zu sein als früher.
Es war schwerer für ihn. Was nicht das gleiche war. Wallander wurde in seinen Gedanken durch Schritte in der Rezeption unterbrochen. Er erhob sich und begrüßte Bo Runfelt. Er war ein großer und gutgebauter Mann. Wallander schätzte ihn auf etwa siebenundzwanzig. Sein Händedruck war kräftig. Wallander bat ihn, sich zu setzen. Im gleichen Augenblick stellte er fest, daß er wie üblich vergessen hatte, einen Notizblock mitzunehmen. Er zweifelte sogar, ob er einen Bleistift bei sich hatte. Er überlegte, ob er zur Rezeption gehen und sich von Björks Sohn Papier und Bleistift leihen sollte. Doch er ließ es bleiben. Er mußte eben versuchen, sich das Wesentliche zu merken. Aber die Nachlässigkeit war unverzeihlich. Das irritierte ihn.
|236| »Ich möchte Ihnen als erstes mein Beileid aussprechen«, begann Wallander.
Bo Runfelt nickte, sagte aber nichts. Seine Augen hatten ein intensives Blau, der Blick war ein wenig blinzelnd. Möglicherweise war er kurzsichtig.
»Ich weiß, daß Sie mit meinem Kollegen schon ausführlich gesprochen haben, mit Inspektor Hansson. Aber ich muß Ihnen auch ein paar Fragen stellen.«
Bo Runfelt schwieg weiter. Jetzt empfand Wallander seinen Blick als durchdringend.
»Soweit ich verstanden habe, wohnen Sie in Arvika«, sagte Wallander. »Und Sie sind Wirtschaftsprüfer.«
»Ich arbeite für Price Waterhouse«, sagte Bo Runfelt. Seine Stimme verriet einen Menschen, der es gewohnt war, sich auszudrücken.
»Das hört sich nicht richtig schwedisch an.«
»Das ist es auch nicht. Price Waterhouse ist eine der größten Wirtschaftsprüfungsfirmen der Welt. Es ist leichter, die Länder zu nennen, wo wir nicht tätig sind, als die anderen.«
»Aber Sie arbeiten
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