Wallander 06 - Die fünfte Frau
Kindheit erinnerte, hatte sie viel Zeit zum Nachdenken. Sie hatte dort im Dunkeln gesessen, auch wenn sie ruhig die Lampe hätte anmachen können. Erst nach Mitternacht hatte sie die Taschenlampe hervorgeholt, die sie auch im Dienst benutzte, und den letzten Brief gelesen, den ihre Mutter ihr geschrieben hatte. Er war ebenso unvollendet wie all die anderen Briefe, die Françoise Bertrand ihr geschickt hatte. Aber im letzten Brief hatte die Mutter angefangen, von sich selbst zu sprechen. Über die Ereignisse, die dazu geführt hatten, daß sie sich das Leben nehmen wollte. Sie hatte verstanden, daß ihre Mutter ihre Bitterkeit nie überwunden hatte.
Wie ein herrenloses Schiff treibe ich durch die Welt
, hatte sie geschrieben.
Ich bin wie ein verfluchter fliegender Holländer, der gezwungen ist, die Schuld eines anderen zu sühnen. Ich habe geglaubt, daß das Alter den Abstand vergrößern würde, daß die Erinnerungen immer schwächer werden, verblassen und schließlich verschwinden. Aber ich sehe ein, daß es nicht so ist. Erst mit
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dem Tod kann ich den Schlußpunkt setzen. Und weil ich nicht sterben will, jedenfalls noch nicht, wähle ich auch die Erinnerung.
Der Brief trug das Datum des letzten Tages, bevor die Mutter zu den französischen Nonnen gekommen war, bevor Schatten sich aus der Dunkelheit gelöst und sie getötet hatten.
Nachdem sie den Brief gelesen hatte, knipste sie die Taschenlampe aus. Alles war sehr still. Zweimal ging jemand auf dem Korridor vorbei. Die Wäschekammer lag in einer Abteilung, die nur teilweise genutzt wurde.
Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. In ihrem Zeitplan standen jetzt drei freie Tage. Erst in neunundvierzig Stunden würde sie wieder im Dienst sein, um 17 Uhr 44. Sie hatte Zeit, und sie wollte sie nutzen. Bisher war alles gegangen, wie es gehen mußte. Frauen machten nur Fehler, wenn sie dachten wie Männer. Das wußte sie seit langem. Sie fand auch, daß sie das bereits jetzt bewiesen hatte.
Es gab jedoch etwas, das sie störte und ihren Zeitplan durcheinanderbrachte. Sie hatte genau verfolgt, was alles in den Zeitungen geschrieben worden war. Sie hatte die Nachrichten im Radio gehört und die Sendungen der verschiedenen Fernsehprogramme angesehen. Es war ihr vollkommen klar, daß die Polizei nichts begriff. Es war auch ihre Absicht gewesen, keine Spuren zu hinterlassen, die Hunde wegzulocken von dem Pfad, wo sie eigentlich suchen mußten. Aber jetzt überkam sie eine Ungeduld angesichts dieser ganzen Unfähigkeit. Die Polizei würde nie verstehen, was geschehen war. Mit ihren Handlungen schuf sie Rätsel, die in die Geschichte eingehen würden. Aber in der späteren Erinnerung würde die Polizei immer nach einem Mann suchen, der diese Verbrechen begangen hatte. Sie wollte nicht mehr, daß es so wäre.
Sie saß in der dunklen Wäschekammer und machte einen Plan. Von jetzt an würde sie kleine Veränderungen vornehmen. Nichts, was ihren Zeitplan durcheinanderbrachte. Es gab stets einen eingeplanten Spielraum, auch wenn das nach außen nicht sichtbar wurde.
Sie wollte dem Rätsel ein Gesicht geben.
Um halb drei verließ sie die Wäschekammer. Der Krankenhauskorridor lag verlassen. Sie brachte ihre weiße Arbeitskleidung in |243| Ordnung und ging die Treppe hinauf, die zur Entbindungsstation führte. Sie wußte, daß dort in der Regel nur vier Personen Dienst hatten. Am Tage war sie dagewesen und hatte so getan, als wolle sie eine Frau besuchen, von der sie wußte, daß sie mit ihrem Kind schon wieder zu Hause war. Sie hatte der Schwester über die Schulter geblickt und gesehen, daß alle Zimmer belegt waren. Es fiel ihr schwer zu verstehen, warum Frauen in dieser Jahreszeit Kinder zur Welt brachten, wo der Herbst in den Winter überging. Aber sie wußte die Antwort. Frauen wählten immer noch nicht selbst, wann sie ihre Kinder bekommen wollten.
Als sie zur Glastür kam, die zur Entbindungsstation führte, verharrte sie und spähte vorsichtig zum Schwesternzimmer. Sie hielt die Tür einen Spaltweit offen. Es waren keine Stimmen zu hören. Das bedeutete, daß die Hebammen und die Schwestern beschäftigt waren. Sie würde weniger als fünfzehn Sekunden brauchen bis zu dem Zimmer, in dem die Frau lag, die sie besuchen wollte. Wahrscheinlich würde ihr niemand begegnen. Aber sie konnte nicht sicher sein. Sie zog den selbstgenähten Handschuh hervor. Sie hatte die Außenseite mit Blei verstärkt, das sie geformt hatte, bis es sich den Konturen der Knöchel
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