Wallander 10 - Wallanders erster Fall
saß. Ganz nah am Altar. Er bewegte sich langsam durch den Mittelgang nach vorne. Ein Mann saß dort. Vorgebeugt, wie ins Gebet versunken. Erst als Wallander fast neben ihm stand, blickte er auf. Im gleichen Augenblick erkannte Wallander ihn. Es war Anders Wislander. Sein Gesicht war das gleiche wie auf dem einen von Eklunds Bildern. Er war unrasiert, und seine Augen glänzten unnatürlich. Wallander fühlte sich bedrückt. Er bereute es jetzt, daß er Martinsson nicht mitgenommen hatte.
»Anders Wislander?« fragte er.
Der Mann sah ihn ernst an. »Wer sind Sie?«
»Ich heiße Kurt Wallander und bin Kriminalbeamter. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«
Wislanders Stimme war plötzlich schrill und ungeduldig, als er antwortete. »Ich bin in Trauer. Sie stören mich. Lassen Sie mich.«
Wallander fühlte sein Unbehagen wachsen. Der Mann dort in der Bank schien einem Zusammenbruch nahe.
»Ich weiß, daß Ihre Frau tot ist«, sagte Wallander, »und darüber möchte ich mit Ihnen reden.«
Wislander stand so abrupt auf, daß Wallander zurückwich. Jetzt war er sicher, daß Wislander völlig aus dem Gleichgewicht geraten war.
»Sie stören mich, und Sie gehen nicht, obwohl ich Sie darum gebeten habe. Also muß ich mir anhören, was Sie zu sagen haben. Wir können in die Sakristei gehen.«
|263| Wislander ging vor. Beim Altar wandte er sich nach links. Wallander sah an seinem Rücken, daß er ungewöhnlich kräftig war. Er konnte der Mann gewesen sein, den er einzuholen versucht und der ihn niedergeschlagen hatte.
In der Sakristei standen ein kleiner Tisch und einige Stühle. Wislander setzte sich und wies auf einen weiteren Stuhl. Wallander zog ihn zu sich heran und fragte sich, wie er anfangen sollte. Wislander betrachtete ihn mit seinen glänzenden Augen. Wallander blickte sich rasch im Raum um. Auf einem anderen Tisch standen zwei große Leuchter. Wallander starrte sie an, ohne zunächst darauf zu kommen, was an ihnen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dann sah er, daß einer von ihnen anders war. Einer der Arme fehlte. Die Leuchter waren aus Messing. Wallander sah Wislander an. Erkannte, daß dieser bereits wußte, was Wallander gesehen hatte. Dennoch traf ihn der Angriff vollkommen unvorbereitet. Mit einem Brüllen stürzte Wislander sich auf Wallander. Er umklammerte mit beiden Händen Wallanders Hals, und seine Kraft, oder sein Wahnsinn, waren enorm. Wallander wehrte sich. Die ganze Zeit schrie Wislander unzusammenhängendes Zeug. Doch Wallander bekam so viel mit, daß es sich um Simon Lamberg drehte, um den Fotografen, der sterben mußte. Dann ließ sich Wislander in seiner Verwirrung über die Apokalyptischen Reiter aus. Unterdessen kämpfte Wallander, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Mit gewaltiger Anstrengung gelang es ihm schließlich. Aber Wislander warf sich sogleich wieder über ihn, wie ein Tier, das um sein Leben kämpft. Im Verlauf ihres Ringens hatten sie sich zum Tisch hinüberbewegt, auf dem die Leuchter standen. Wallander konnte einen davon greifen und schlug ihn Wislander ins Gesicht. Er sackte sofort zusammen. Im ersten Augenblick dachte Wallander, er hätte ihn erschlagen. So wie Lamberg erschlagen worden war. Doch dann merkte er, daß Wislander atmete.
Wallander sank keuchend auf einen Stuhl. Er fühlte, daß sein Gesicht zerkratzt war. Der provisorisch behandelte Zahn war jetzt zum drittenmal kaputt.
Wislander lag auf dem Fußboden. Langsam kam er wieder zu sich. Gleichzeitig hörte Wallander, wie die Kirchentür geöffnet wurde.
|264| Er verließ die Sakristei, um Martinsson entgegenzugehen, der unruhig geworden war und von Wislanders Nachbarn aus ein Taxi gerufen hatte.
Alles war sehr schnell gegangen. Aber Wallander wußte, daß es jetzt vorbei war. Er hatte auch den Mann wiedererkannt, der ihn in Ystad niedergeschlagen hatte. Er hatte ihn erkannt, ohne eigentlich je sein Gesicht gesehen zu haben. Aber er war es. Daran bestand kein Zweifel.
Einige Tage später versammelte Wallander seine Kollegen im Sitzungsraum des Polizeipräsidiums um sich. Es war Nachmittag. Ein Fenster war geöffnet, und endlich war die Frühjahrswärme deutlich zu spüren. Wallander hatte seine Verhöre mit Anders Wislander vorerst beendet. Der Mann war jetzt in einer so schlechten psychischen Verfassung, daß ein Arzt Wallander von weiteren Verhören abgeraten hatte. Doch Wallander hatte ein klares Bild gewonnen und konnte seinen Kollegen eine Darstellung des Geschehens geben.
»Alles ist
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