Wallander 10 - Wallanders erster Fall
Sie machten einen langen Spaziergang durch Sandskogen. Sie erzählte von ihren Plänen. Wallander hatte ihr zu Weihnachten ein Versprechen geschenkt. Nämlich möglichst viel |373| von den Kosten zu übernehmen, wenn sie sich entschied, in Frankreich ein Praktikum zu machen. Spät am Nachmittag brachte er sie zum Zug. Er hätte sie gern nach Malmö gebracht, aber sie wollte lieber mit dem Zug fahren. Am Abend fühlte Wallander sich einsam. Er sah sich im Fernsehen einen alten Film an und hörte dann
Rigoletto
. Dachte, daß er Rydberg hätte anrufen und ihm frohe Weihnachten wünschen sollen. Jetzt war es zu spät.
Als Wallander am zweiten Weihnachtstag um kurz nach sieben aus dem Küchenfenster sah, fiel ein düsterer Schneeregen auf Ystad. Plötzlich erinnerte er sich an die warme Nachtluft in Kairo. Dachte auch, daß er auf keinen Fall vergessen durfte, Radwan für seine Hilfe zu danken. Er schrieb es auf seinen Notizblock, der auf dem Küchentisch lag. Dann machte er sich zur Feier des Tages ein ordentliches Frühstück.
Erst gegen neun Uhr fuhr er ins Polizeipräsidium. Er sprach mit ein paar Polizisten von der Nachtschicht. Weihnachten war dieses Jahr ungewöhnlich ruhig gewesen. Am Heiligabend war es zwar wie gewöhnlich zu zahlreichen Familienstreitigkeiten gekommen, aber keine davon war wirklich ernst gewesen. Wallander ging durch den einsamen Korridor in sein Zimmer.
Jetzt mußte er wieder ernsthaft die Ermittlungen der Mordfälle anpacken. Noch immer waren es zwei verschiedene Fälle, obwohl er überzeugt war, daß es dieselbe Person war, die die Schwestern Eberhardsson und Yngve Leonard Holm getötet hatte. Es war nicht nur dieselbe Waffe und dieselbe Hand. Es gab auch ein gemeinsames Motiv. Er holte Kaffee aus dem Eßraum und beugte sich über seine Anmerkungen. Die Pyramide mit ihrer Basis. Er zeichnete ein großes Fragezeichen in die Mitte des Dreiecks. Die Spitze, die sein Vater hatte erklimmen wollen und zu der er sich nun selbst vorarbeiten mußte. Nach mehr als zweistündigem Grübeln war er sich seiner Sache sicher. Was sie nun mit aller Kraft suchen mußten, war ein fehlendes Glied. Ein Muster, vielleicht eine Organisation, war zusammengebrochen, als das Flugzeug abstürzte. Dann waren einer oder mehrere Unbekannte hastig aus dem Schatten getreten und hatten gehandelt. Sie hatten drei Menschen getötet.
Schweigen, dachte Wallander. Vielleicht geht es genau darum? Um ein Wissen, das nicht ans Licht kommen darf? Tote reden nicht.
|374| So konnte es gewesen sein. Aber auch ganz anders.
Er stellte sich ans Fenster. Der Schnee fiel jetzt dichter.
Es wird seine Zeit brauchen, dachte er.
Das ist das erste, was ich bei unserer nächsten Sitzung sagen werde.
Wir müssen damit rechnen, daß diese Untersuchung ihre Zeit braucht.
10
In der Nacht zum 27. Dezember hatte Wallander einen Alptraum. Er war wieder in Kairo, im Gerichtssaal. Radwan war nicht mehr an seiner Seite. Aber jetzt konnte er plötzlich alles verstehen, was der Staatsanwalt und der Richter sagten. Sein Vater saß in Handschellen da, und Wallander war entsetzt, als er zum Tode verurteilt wurde. Wallander stand auf, um zu protestieren. Aber niemand nahm von ihm Notiz. Dann strampelte er sich aus dem Traum heraus, hoch an die Oberfläche, und als er aufwachte, war er schweißnaß. Er lag ganz still da und starrte in die Dunkelheit.
Der Traum hatte ihn so beunruhigt, daß er aufstand und in die Küche ging. Es schneite immer noch. Die Straßenlaterne schaukelte langsam im Wind. Es war halb fünf. Er trank ein Glas Wasser und stand eine Weile da und spielte mit einer halbleeren Whiskyflasche. Aber er ließ sie zu. Er dachte daran, daß Linda gesagt hatte, Träume würden Botschaften überbringen. Auch wenn die Träume von anderen Menschen handelten, waren sie in erster Linie Botschaften für einen selbst. Wallander hatte immer bezweifelt, daß es Sinn machte, zu versuchen, Träume zu deuten. Was konnte es denn für ihn bedeuten, daß sein Vater zum Tode verurteilt wurde? Hatte der Traum ein Todesurteil über ihn selbst ausgesprochen? Dann dachte er, daß die Ursache vielleicht seine eigene Beunruhigung über Rydbergs Gesundheitszustand war. Er trank noch ein Glas Wasser und ging wieder ins Bett.
Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Die Gedanken wanderten. |375| Mona, der Vater, Linda, Rydberg. Und dann war er wieder bei seinem ewigen Ausgangspunkt. Der Arbeit. Den Morden an den Schwestern Eberhardsson und an Yngve Leonard Holm.
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