Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
an der Länge des Tages. Ein Bauer denkt in Drei-Jahres-Abschnitten: ein Jahr für Anbau und Ernte auf den Feldern und zwei Jahre für die in der Scheune gelagerten Vorräte. Für Gelegenheitsarbeiter ohne Land und Komödiendichter gilt das Jahr als Zeitmaß: entweder, wo man dieses Jahr arbeiten wird, oder was man auf den diesjährigen Festspielen aufführen will. Diese Herangehensweise mit Blick auf das Jahr ist zwar geringfügig besser als die des Kindes, führt aber nicht zu Beständigkeit. Die andere Einstellung zu den Dingen, der ich mich einfach nicht entziehen konnte, war die Art, in der ein Mensch mit dem Begriff Zeit umgeht, wenn er, nachdem er sich schon mit dem Tod abgefunden hat, ganz unvermutet noch am Leben ist, und diese Bemessungsweise richtet sich nach Minuten oder gar Sekunden.
Doch der Hauptfaktor in der umfassenden Neuordnung meines Lebens war Phaidra. In der erheblichen Unruhe, die von Demeas in mein Leben gebracht worden war, hatte ich beinahe zufällig erkannt, daß Phaidra und ich, wenn wir uns vorsahen, unser Zusammenleben nicht nur gemeinsam ertragen, sondern auch genießen konnten. Von dieser Erkenntnis wollte ich Gebrauch machen und sie auf die Probe stellen. Phaidra ihrerseits hatte es sich jedoch hauptsächlich in den Kopf gesetzt, mit dem Sortieren des Vorratsschranks oder der Anfertigung eines neuen Überwurfs für das Bett weiterzumachen, und betrachtete alle meine Versuche, sich in Ruhe hinzusetzen und die Dinge durchzusprechen, als lästige Unterbrechungen ihrer täglichen Hausarbeit. Aber ich gab nicht auf; und obwohl wir nie die allumfassende Diskussion über das Wesen des Ehelebens an sich geführt haben, die einer dieser Möchtegernschreiber an dieser Stelle der Erzählung bestimmt eingeschoben hätte, trafen wir eine Art wortlose Übereinkunft: Wir wurden uns einig, die Veränderung unserer Einstellung zueinander zu akzeptieren, solange keiner von uns beiden jemals ein Wort darüber verlor.
Etwa zu dieser Zeit, als ich in Pallene allen im Weg stand, änderte sich die politische Lage, zwar kaum spürbar, aber doch so, daß selbst ich allmählich ausgesprochen unruhig wurde. Nun möchte ich wirklich nicht einmal ansatzweise andeuten, meine Rede hätte irgend etwas damit zu tun gehabt, doch vielleicht war mein Freispruch ein erstes Anzeichen dafür, daß sich etwas änderte. Jedenfalls war das erste, das selbst mir nicht entgehen konnte, die Einführung eines vollkommen neuen Arms der gesetzgebenden Körperschaft: eines Zehnerrats, eingesetzt, um den eigentlichen Rat zu ›beraten‹. Die zehn Mitglieder waren zwar so demokratisch wie möglich gewählt worden, aber wenn man eine bestimmte Anzahl von Männern, seien es nun zehn oder eintausend, für eine x-beliebige Dauer mit Macht versieht, muß man damit rechnen, daß sie schon bald mit ihrem ursprünglichen Auftrag nur noch wenig gemein haben. Was mich an der Sache amüsierte, war die Tatsache, daß sich unter den zehn Männern der berühmte Tragödiendichter Sophokles befand. Mittlerweile war er weit über achtzig, praktisch blind und vollkommen senil. Natürlich wußte er, was er tat; juristisch war er nicht hilflos, wie er etwa zu dieser Zeit in einem Prozeß bewiesen hatte, als sich seine Familie sein Vermögen unter den Nagel reißen wollte und er sich durch die Verlesung seines gerade geschriebenen Stücks verteidigte und anschließend die Frage aufwarf, ob ein seniler Mensch so etwas hätte zu Papier bringen können. Trotzdem lebte er nicht mehr in oder auch nur am äußersten Rande der realen Welt, und er bildete sich tatsächlich ein, Athen befinde sich in den Fängen irgendeines großen tragischen Kreislaufs, so als wolle er darüber eine Trilogie verfassen; und da man nichts tun könne, um die alte Stadt zu retten, sei es noch am rücksichtsvollsten, ihre unvermeidliche Zerstörung zu beschleunigen und somit ihre Wiedergeburt herbeizuführen. Die übrigen neun Ratsmitglieder befaßten sich mit irdischeren Dingen wie der öffentlichen Ordnung und der Wasserversorgung.
Ebenfalls um diese Zeit herum nahm man den Aufstand auf Chios allmählich ernst und entsandte eine große Streitmacht, um ihn niederzuschlagen. Wie lange das alles dauerte, weiß ich nicht mehr; und möglicherweise bin ich in meinem Wunsch, diese Erzählung zu Ende zu bringen, Monate oder sogar Jahre vorausgeeilt. Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen: Ich erinnere mich nur dunkel an die Reihenfolge der Ereignisse nach meinem Prozeß, da ich mehr oder
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