Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
weniger außerhalb der Gesellschaft stand und den Erzählungen nur wenig Beachtung schenkte. Aber ganz gewiß erinnere ich mich daran, daß die Einsetzung des Zehnerrats und der Aufstand auf Chios – oder handelte es sich gar um den auf Samos? – eine Menge mit dem Aufstieg des außergewöhnlichen Zeitgenossen Peisandros zu tun hatten. Peisandros verwechsle ich ständig mit Phrynichos (nicht dem Komödiendichter, sondern dem Heerführer), aber um ehrlich zu sein, spielen die Hauptfiguren gar keine so große Rolle. Was zählte, war die Veränderung in den Anschauungen der Menschen, und die war wirklich verblüffend.
Schon seit Jahren kursierten Gerüchte über eine oligarchische Bewegung in Athen – nämlich daß reiche junge Männer, die über jede Menge Zeit verfügten, die Demokratie stürzen und die Macht ergreifen wollten. Angefangen hatte das Ganze als Gerücht über eine Verschwörung, dem niemand weitere Beachtung schenkte, es sei denn, man benötigte es für eine Anklage oder eine Komödie. Ich weiß zwar nicht, was zuerst kam, das Gerücht oder die eigentliche Bewegung, doch zu dieser Zeit nahm der Traum allmählich Gestalt an, und zwar eine sehr unerfreuliche. Bis dahin hatte man zu Oligarchen eher ein Verhältnis wie zu Riesen oder Kentauren – bis zu einem gewissen Grad glaubte man an ihre Existenz, und man kannte jemanden, dessen Onkel einen gesehen hatte, aber selbst einmal einem zu begegnen, damit rechnete man nicht. Wenn man nun zu den Menschen gehörte, die derartigem Gerede Glauben schenkten, mußte einem langsam der Verdacht kommen, daß diese eigenartigen Männer, von deren Namen man so viel gehört hatte, tatsächlich Oligarchen sein könnten, und allmählich machte man sich über die eine große aktuelle Kernfrage Gedanken, nämlich über die Rückkehr des verlorenen Führers Alkibiades.
Über Alkibiades habe ich absichtlich nicht viel erzählt; zum einen kannte ich ihn nicht gut genug, um mich über ihn auszulassen, und zum anderen finde ich, daß seine Bedeutung weit überschätzt wurde. Wenn man einige Leute so reden hört, könnte man glauben, Alkibiades sei eine Ein-Mann-Stadt mit eigenen Flotten, Heeren und Geld gewesen. Nicht ein Fünkchen Wahrheit ist daran; er war vielmehr eine recht schillernde Persönlichkeit, die sich während der Verbannung aus Athen die Zeit am spartanischen Hof und dem des persischen Satrapen Tissaphernes mit belanglosen Intrigen vertrieb. Er mag zwar einigen einflußreichen Männern unter unseren Feinden eine ganze Menge von Hinweisen gegeben haben, aber ich bezweifle arg, ob er sie auch auf nur eine einzige neue Idee gebracht hat. Da wir Athener ernsthaft davon überzeugt sind, daß nur wir in der ganzen Welt etwas zustande bringen können, mußte natürlich auch ein Athener für die kommenden Ereignisse verantwortlich sein; und weil sich Alkibiades zu jener Zeit gerade in der Gegend aufhielt, nahmen wir natürlich an, der spartanisch-persische Hilfsvertrag, durch den uns im Krieg letztendlich der Hals gebrochen wurde, habe etwas mit einem glänzenden Plan oder einer Taktik des berühmten Alkibiades zu tun.
Aber auch wenn Alkibiades selbst nur eine unbedeutende Rolle spielte, sein Name war eine ganz andere Sache. Wo immer zwei oder drei Athener zum Gespräch zusammenkamen, fiel sein Name fast zwangsläufig, und von diesen dreien war stets einer für Alkibiades; wahrscheinlich nur deshalb, um als Querkopf zu gelten. Jetzt, da es wieder erlaubt war, über solche Dinge laut nachzudenken, diskutierten diejenigen Athener, die eine Schwäche für Wortgefechte und Debatten hatten (also alle Athener), immer häufiger über eine Verfassungsänderung. Sie fragten sich, ob eine Oligarchie wirklich eine gute Idee sei. Was sprach zu ihren Gunsten und was dagegen? Haben Athener erst einmal angefangen, sich über etwas zu unterhalten, kann man mit Bestimmtheit davon ausgehen, daß sie es früher oder später umzusetzen versuchen, insbesondere dann, wenn es sich für athenische Verhältnisse um etwas wirklich Neues handelt. Für die Idee der Oligarchie sprach im Grunde am meisten der Reiz des Neuen, verbunden mit einer gewissen Atmosphäre der Heimlichtuerei, Verruchtheit und Gefahr. Man gebe noch das ständige Gefühl der Verzweiflung aufgrund der sizilianischen Katastrophe hinzu sowie eine Prise Abscheu vor den unangemessenen ersten Reaktionen auf diese Niederlage, und schon hat man einen schönen scharfen Eintopf, aus dem sich das ganze Land ernähren kann, um richtig
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