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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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unter einer Generation in der einen Gegend dreiunddreißig und in einer anderen womöglich vierzig Jahre versteht. Erst dann machte er sich daran, sein eigentliches Geschichtswerk zu schreiben, und las eines Tages seiner Frau daraus vor.
    »Hast du den Verstand verloren? Du erwartest doch wohl wirklich nicht, daß sich jemand so etwas anhören will, oder?« erboste sie sich.
    »Und wieso nicht?« fragte Herodot.
    »Nun ja, das alles klingt so« – seine Frau suchte geduldig nach den passenden Worten –, »nun ja, so wahr, wenn du weißt, was ich meine.«
    Herodot dachte eine Weile darüber nach, dann verstand er, worauf sie hinauswollte, und machte sich wieder mit aller Macht an die Arbeit. Er erhöhte sämtliche Entfernungen, die er so sorgfältig nachgemessen hatte, und verdoppelte die Anzahl persischer Soldaten, die er so penibel aufgezeichnet hatte. Den Bericht, wie man in der Wüste durch den Einsatz von Sieben und Wasser Goldstaub verfeinert, nahm er heraus und ersetzte ihn durch ein haarsträubendes Märchen über Zwerge und Riesenameisen. Zudem erfand er einen völlig neuen Abschnitt über das Reich der Skythen, obwohl es sich dabei ausgerechnet um den einzigen Teil der Welt handelte, in dem er nie gewesen war, und behauptete zu allem Überfluß, er habe das Land der Länge und Breite nach durchstreift und alle diese erdichteten Wunder mit eigenen Augen gesehen. Schließlich deponierte er seinen ursprünglichen Entwurf im Tempel der Göttin Athena, für den Fall, daß der Rat eines Tages über eins dieser Länder oder Themen exakte Informationen brauchen sollte, und veranstaltete mit seiner umgearbeiteten Version Lesungen, die erwartungsgemäß zu einem durchschlagenden Erfolg wurden.
    Wenn ich mir jetzt noch einmal durchlese, was ich bislang geschrieben habe, dann habe ich nach meinem Dafürhalten einen durchaus sachlichen und auch recht persönlich gehaltenen Bericht davon geliefert, was mir in Sizilien widerfahren ist – allerdings unter der Voraussetzung geschrieben, daß meine Leser an den Taten eines einzelnen Menschen interessiert sind, der eigentlich keine besonders wichtige Rolle spielt, was natürlich eine höchst gewagte Annahme ist. Folglich habe ich mir selbst keine andere Wahl gelassen, als das, was nun folgt – wozu auch mein Wiedersehen mit Phaidra gehört – so wahrheitsgetreu wiederzugeben, wie es mir nach all den Jahren möglich ist. Sonst müßte ich von vorn anfangen und alles umschreiben, was bislang geschehen ist, ein paar nette Brocken Geographie und die eine oder andere erfundene Geschichte über Götter und Wunder einstreuen, geradewegs so, wie wir auf den freien Flächen zwischen den Rebstöcken auf dem Weinberg Gerste pflanzen. Könnte allein ich entscheiden, hätte ich nichts dagegen einzuwenden, so vorzugehen, aber als ich heute morgen auf den Marktplatz ging, um Fisch zu kaufen, hat mich der Buchhändler Dexitheos, dieser alte Plagegeist, gedrängt, endlich das vollständige Manuskript abzuliefern, und deshalb muß ich wohl oder übel weitermachen – und wenn Ihnen das, was nun folgt, zu realistisch erscheint, müssen Sie also ihm und nicht mir die Schuld dafür geben.
    Wie ich Ihnen bereits erzählte, hängte ich mein Schwert über den Türsturz an die Wand zurück, als die Tür zum Innenraum geöffnet wurde und Phaidra plötzlich vor mir stand. Ich nahm jedenfalls an, daß es Phaidra war; aber wenn ich ein Zeuge vor Gericht gewesen wäre und mich der Ankläger gefragt hätte, ob ich mir dessen absolut sicher sei, hätte ich meine Aussage relativieren müssen, weil ich mich zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht genau daran erinnern konnte, wie Phaidra auszusehen hatte. Was ich sah, war eine mittelgroße Frau, Mitte bis Ende zwanzig, mit ungekämmten Haaren und den deutlich erkennbaren Merkmalen eines gebrochenen Unterkiefers. Während ich sie ansah, hatte ich keinerlei Erinnerungen an sie, ich verband nicht einmal irgendwelche Assoziationen mit ihr; weder Liebe noch Haß, nichts an ihr zog mich an, nichts stieß mich ab, und ich hatte dieses außergewöhnliche Gefühl, frei darüber entscheiden zu können, ob ich sie als echt annehmen oder als falsch ablehnen wollte, so als wäre sie eine dieser streunenden Ziegen, die wir manchmal auf den Bergen zusammentreiben, um sie dann so gut wie möglich zu identifizieren. Nähme ich sie jetzt an – es käme fast einer zweiten Heirat gleich –, dann wäre ich ihr bis an mein Lebensende verpflichtet. Würde ich sie ablehnen, könnte

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