Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
den Hügeln bei Pallene, und dort fließt während des Frühjahrs ein kleiner Bach in einen Tümpel, bevor die Sonne dort alles Wasser verdunsten läßt. Wir saßen um diesen Tümpel herum, warfen mit Steinen nach Fröschen, und einer der Jungen erzählte eine Geschichte, die er von seiner Großmutter gehört hatte. Es war die Geschichte des Narkissos, und ich verstand ihren Sinn nicht. Der Jäger, so wird dort behauptet, blickt in das Wasser, sieht diesen schönen Jüngling und verliebt sich in sein Ebenbild.
»Amyntas, wer war denn dieser schöne Jüngling? Und wie konnte er überhaupt unter Wasser atmen?« frage ich.
Alle lachten und beschimpften mich mit unflätigen Ausdrücken, aber das scherte mich nicht weiter. »Du weißt es doch auch nicht, Amyntas!« kreischte ich mit meiner piepsigen Stimme dazwischen. »Ich finde die Geschichte blöd, und du hast sie dir bestimmt gerade erst ausgedacht.«
Erneut lachten alle, und Amyntas wies mich schließlich darauf hin, daß man sein Spiegelbild sehen kann, wenn man auf eine glatte Wasseroberfläche schaut.
»Und was ist ein Spiegelbild?« wollte ich wissen.
»Das ist wie ein richtiges Bild von dir.«
»Mein Vater besitzt ein Bild von meiner Mutter«, sagte ich. »Er hat eine Vase mit ihr als Penelope bemalt, obwohl es ihr kein bißchen ähnlich sieht. Ich bin aber noch nie gemalt worden.«
»Du mußt auch gar nicht gemalt werden«, klärte mich Amyntas auf. »Das geschieht ganz von selbst. Du brauchst nur da vorn in den Tümpel zu gucken.«
Natürlich entschied ich mich dagegen; das war nur ein Vorwand, um mich von hinten in den Tümpel zu stoßen und mich so lange unter Wasser zu halten, bis ich keine Luft mehr bekommen hätte. Auf dem Nachhauseweg packte mich allerdings die Neugier, und ich blickte in den Wassertrog auf unserem Weinberg. Dort war eindeutig ein Bild zu sehen. Ich erkannte einen häßlichen kleinen Jungen mit einem gequetschten Kopf und viel zu großen Ohren, und ich haßte ihn, weil er mir Angst einjagte. In Tränen aufgelöst, rannte ich nach Hause, und mein Vater fragte mich, weshalb ich so betrübt sei. Als ich es ihm erzählte, lachte er.
»Hör mal, dagegen kannst du nichts machen«, sagte er. »Du bist nun mal mit diesem Gesicht auf die Welt gekommen, ob du willst oder nicht.«
»Kannst du es nicht wenigstens etwas schöner machen?« fragte ich.
»Das kann nur Zeus.«
Also betete ich Abend für Abend zu Zeus, mich schöner zu machen, und lief jeden Morgen zum Wassertrog, um hineinzusehen, aber das Gesicht blieb immer dasselbe. Eine ganze Weile konnte ich nicht verstehen, warum Zeus meine Gebete nicht erhören wollte, zumal ich ihn ganz inständig darum gebeten und ihm sogar meine Lieblingsheuschrecke geopfert hatte. Dann hatte ich die göttliche Eingebung, daß er bestimmt gerade unterwegs war und die Skythen oder die Äthiopier besuchte, so daß er mich gar nicht hören konnte und ich eigentlich nur auf seine Rückkehr zu warten brauchte. Danach muß ich vergessen haben, weiterhin zu ihm zu beten, denn der Anblick meines Gesichts blieb, wie er war, oder wurde sogar noch schlimmer.
Als ich jedenfalls damals Phaidra ansah, hatte ich dasselbe Gefühl: daß sie nämlich, wie mein Gesicht, ein Teil von mir war und nur Zeus daran etwas ändern könnte.
»Wie geht’s meinem Sohn?« fragte ich sie, und das war, ehrlich gesagt, tatsächlich das erstemal, daß ich seit meiner Abreise aus Athen wieder an ihn dachte. Selbst als ich mich jetzt an ihn erinnerte, verspürte ich kein großes Interesse an ihm. Er war für mich wie ein versteckt aufbewahrtes Geschenk eines Freundes, an das man sich erst erinnert, wenn der betreffende Freund anklopft, um es dann noch schnell vor dem Öffnen der Tür hervorzuholen und hübsch sichtbar aufzustellen.
»Ihm geht’s gut«, antwortete Phaidra. »Er ist gerade beim Kindermädchen. Soll ich ihn holen lassen?«
»Nein, solange es ihm gutgeht, ist alles in Ordnung.«
»Irgend etwas bedrückt dich doch, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und was?«
»Laß mich erst die Stiefel ausziehen.«
»Ach, jetzt vergiß doch deine Stiefel!« sagte sie gereizt, und ich lächelte sie an.
»Aber meine Füße dampfen schon. Ich will mir jetzt die Stiefel ausziehen.«
»Wenn es dir soviel bedeutet, dann zieh endlich diese stinkenden Stiefel aus. Aber sag mir wenigstens, worum es geht. Ich will einfach wissen, ob man dich festnehmen wird oder nicht.«
Ich umarmte sie. Phaidra fühlte sich vertraut an, als gehörte sie zu
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