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Wallentin, Jan

Wallentin, Jan

Titel: Wallentin, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Strindbergs Stern
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aktuelle Kreuz befand sich mitten in einem Gebiet
unmittelbar nördlich von Spitzbergen, das bereits voll roter Markierungen war.
Eva hatte mit Filzstift eine Linie durch das Gebiet gezogen, die den gesamten
Weg von Murmansk bis hin zum Nordpol kennzeichnete.
    Don
schaute von der Karte auf und sah, wie sich die Sphären im Fenster des
Hotelzimmers spiegelten. Er drehte den Gashahn zu, woraufhin die Flamme mit
einem leichten Knistern erlosch. Er ließ das kristallklare Kreuz auf dem
Drahtnetz liegen, und es klirrte, als sich der Stern wieder von der Mitte des
Querbalkens löste.
    Als er die
Gegenstände zwischen den dicht gepackten Winterkleidern verstaute, waren der
Stern und das Kreuz wieder weiß und kalt wie Eis. Dann wickelte Don den
Gummischlauch um Gaszylinder und Bunsenbrenner, beförderte alles in den
Rucksack und zog die Riemen fest.
    Er warf
einen Blick auf das rote Kreuzchen, das er gerade auf der Arktiskarte
eingezeichnet hatte. Es würde die letzte Markierung in Murmansk sein. Das
nächste Mal würden sie den Bunsenbrenner anzünden, wenn sie sich bereits weit
draußen auf den endlos tiefen Gewässern des Nördlichen Eismeers befanden. Wenn
die Rechtsanwältin mit ihrer Morgendusche fertig war, würden sie das Hotel
Russlandia verlassen, um an Bord zu gehen.
     
    Don ging
zum Fenster und schaute hinunter auf den russischen Eisbrecher. Er lag dort im
Hafen wie ein mit Spots angestrahltes schwimmendes Hochhaus.
    An seinem
schwarzen Rumpf befanden sich drei weiß gestrichene Ellipsen, die ein
Atomzeichen formten. Jamal, wie das
Schiff hieß, wurde von Kernenergie angetrieben - die einzige Energie, die
ausreichte, um im Oktober das Packeis der Arktis zu durchbrechen.
    Der
Schiffskörper war orangefarben und besaß Bullaugen, die in endlosen Reihen
entlang des Überbaus aus Stahl verliefen. Eigentlich, so dachte Don, müsste er
erleichtert darüber sein, dass es nun endlich Zeit für die Abfahrt war. Doch
das Einzige, was er spürte, war ein dumpfer Schmerz in der Magengegend, der
ganz sicher Ausdruck seiner Angst war. Trügerisch lag das Meer dort draußen,
bereit, ihn hinabzuziehen. Es kam ihm vor, als wartete es einzig darauf, das
Kreuz und den Stern in seinem eiskalten Schlund zu verschlingen.
     
    Vor einem
Monat hatte der Vorschlag der Rechtsanwältin im Güterwaggon anfänglich wie ein
Gedankenspiel geklungen: Man würde sich oben in Murmansk verstecken und sich
danach einfach weiter in Richtung Norden bewegen. Weit entfernt vom Zugriff
jeglicher europäischen Polizei würden sie sich beide auf die Suche nach der
Antwort auf Nils Strindbergs Geheimnis begeben können, nach der Öffnung zur
Unterwelt, von der sie inzwischen schon so viel gehört hatten.
    Don hatte
sie nicht ganz ernst genommen, doch Eva hatte den Laptop geöffnet und ihm all
die Nordpolkreuzfahrten gezeigt, die regelmäßig von Murmansk aus starteten. Die
Reise, die die Rechtsanwältin letztlich für sie buchen konnte, hieß »Bailey
Expeditions: Early Fall Arctic Cruise«. Sie hatten das Geld im Voraus bei einer
Bank eingezahlt, als sie in Murmansk angekommen waren.
    Hex'
mitgeschickte Dollarscheine hatten gerade so für die Tickets gereicht, und
mittels der gefälschten Passnummern sandte man ihnen die Reiseunterlagen per
Fax zu. In ihnen konnten sie ihre neuen Namen lesen: Samuel und Anna Goldstein.
Ein schwedisch-jüdisches Paar mittleren Alters; die Ehefrau hatte blondes
Haar, und ihr Gesicht war auf dem Passfoto bemerkenswert unscharf.
    Don wusste
nicht mehr, wie oft er in den vergangenen Wochen des Wartens auf der Website
von Bailey Expeditions herumgesurff war, um sich an den Gedanken zu gewöhnen,
dass die Reise tatsächlich stattfinden würde. Auf den Fotos des amerikanischen
Reisebüros konnte man Touristen in roten Jacken sehen. Sie umarmten einander
neben einer Nordpolflagge unter einem wolkenlosen blauen Himmel. Hinter ihnen brach
sich die Jamal eine Fahrrinne durchs Eis, und das
Ganze wurde wie ein gemütlicher Sonntagsausflug dargestellt.
    Sieben
Tage würde es dauern, den neunzigsten Breitengrad zu erreichen und jetzt, da
es Herbst wurde, würden sie unter einem ständig dunklen Polarhimmel
dahinfahren. Don hatte auch einiges über die aufkommenden Stürme im Oktober
gelesen, eine Tatsache, die die Rechtsanwältin ihrerseits kurzerhand vom Tisch
wischte.
    Sie hatten
ebenfalls keine Lösung dafür gefunden, wie sie den Eisbrecher würden aufhalten
können, wenn er schließlich die Höhe der vom Strahl ausgewiesenen

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