Walter Ulbricht (German Edition)
»Ausschuss für deutsche Einheit« gebildet worden.
Und andererseits war es ein Versuch, die Remilitarisierung der Bundesrepublik aufzuhalten. In wenigen Tagen wollte der Bundestag ein Wehrverfassungsgesetz beschließen, das den Weg freimachen sollte für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Ich greife vor: Dieses Gesetz und die damit verbundene Änderung des Grundgesetzes passierten am 26. Februar den Bundestag und am 19. März den Bundesrat. Die Westmächte in Gestalt der Alliierten Hochkommission hatten zwar die Einschränkung gemacht, dass dieses Gesetz erst in Kraft treten dürfe, wenn die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gegründet sei, aber das war nur Schattenboxen. Diese westeuropäische Armee mit deutscher Beteiligung sollte im Sommer 1954 in der französischen Nationalversammlung scheitern, weil man dort noch sehr gut die deutsche Besatzung in Erinnerung hatte, die erst zehn Jahre zuvor geendet hatte. Daraufhin nahm man die Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt auf, womit erkennbar wurde, was der vermeintliche Vorbehalt der Westmächte im Früjahr 1954 wert gewesen war: nämlich nichts.
Ulbricht erläuterte uns die taktischen und strategischen Zusammenhänge der Politik des Westens und seine eigenen Überlegungen, wie darauf zu reagieren sei, das mir, gerade erst 25 Jahre alt, die Ohren glühten. Für mich war erkennbar: Ulbrichts Perspektive war die eines deutschen Politikers, der das ganze Deutschland im Blick hatte. Er fühlte sich für alle Deutschen verantwortlich und wollte die Zementierung der Spaltung verhindern, die zwangsläufig stattfinden würde, wenn die Bundesrepublik in ein westliches Militärbündnis eingebunden werden würde. Das wollte er mit allen friedliebenden, demokratischen Kräften in Deutschland verhindern. Darum hoffte er auf Unterstützung auch der SPD. Die wurde seit dem Tod des Antikommunisten Schumacher seit etwa anderthalb Jahren von Erich Ollenhauer geführt, der vor wenigen Monaten bei den Bundestagswahlen als Kanzlerkandidat seiner Partei mit 28,8 Prozent gescheitert war. Aber: Er war in den Wahlkampf mit dem klaren oppositionellen Gestus gezogen, der sich gegen die Adenauer-Linie richtete: Nein zur Westintegration, Ja zur Wiedervereinigung. Daran wollte Ulbricht nun anknüpfen.
Das Schreiben, dessen Inhalt eindeutig Ulbrichts Handschrift trug, sollten wir in die SPD-Zentrale bringen, die gemeinhin »Bonner Baracke« hieß. Die Bundesparteizentrale war ein barackenähnliches Gebäude an der Friedrich-Ebert-Allee, das die SPD zu Beginn der 50er Jahre angemietet hatte, um bewusst das Provisorische zu unterstreichen. Nach der Wiedervereinigung, von der die Partei ausging, wollte der Vorstand die Zentrale sofort in die alte und neue Hauptstadt verlegen, nach Berlin.
Und warum hatte Ulbricht uns beide für die Mission ausgewählt? Ich konnte mir das nur so erklären, weil in der Baracke auch die Redaktion des Vorwärts arbeitete, Bamberger und Günther besuchten gleichsam Kollegen. Doch bis zur Redaktion kamen wir erst gar nicht. Ein Zerberus am Eingang der SPD-Zentrale, der hinter einem Schreibtisch wie ein Palastwächter thronte, ließ uns nicht ein und verweigerte auch die Annahme unseres Briefes. Daraufhin legten wir den Briefumschlag auf den Tisch und gingen.
Der Mann griff wütend den Umschlag und warf ihn uns hinterher.
Am 19. Februar 1954 veröffentlichte das Neue Deutschland den Wortlaut dieses Schreibens, dessen Annahme zwei Tage zuvor in der SPD-Zentrale verweigert worden war.
Am 7. April, keine sieben Wochen nach Ulbrichts Angebot, lehnte auf Antrag der Adenauer-Regierung der Deutsche Bundestag die Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik – deren Bezeichnung man grundsätzlich nicht benutzte, sondern abwertend nur von »Ostzone« oder »Pankow« sprach – ab und beschloss den Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen. Ein Staatssekretär namens Hallstein sollte bald diese Position in eine Doktrin kleiden, die auch Sanktionen gegen Drittstaaten enthielt, welche gegen diese westdeutsche Anmaßung handelten und Beziehungen zur DDR aufnahmen. Erst die SPD-geführte Regierung unter Willy Brandt sollte 1969 diesen Anachronismus beenden. In seiner ersten Regierungserklärung sprach der Bundeskanzler von zwei Staaten in Deutschland, womit er die sogenannte Zweistaatentheorie aufgriff, mit der Ulbricht und Chruschtschow 1954 auf den Bonner Alleinvertretungsanspruch reagiert hatten. Der sowjetische Generalsekretär erklärte
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