Walter Ulbricht (German Edition)
kollidierte, hatten wir uns erst später angeeignet). So findet man im Frauenkommuniqué nach der Würdigung des Erreichten unter anderem die harsche Feststellung: »Das Politbüro ist jedoch der Meinung, dass die(se) großen Fähigkeiten und Leistungen der Frauen und Mädchen ungenügend für ihre eigene Entwicklung und für den gesellschaftlichen Fortschritt genutzt werden. Die Hauptursache dafür ist die bei vielen – besonders bei Männern, darunter auch leitenden Partei-, Staats-, Wirtschafts- und Gewerkschaftsfunktionären – noch immer vorhandene Unterschätzung der Rolle der Frau in der sozialistischen Gesellschaft. Es ist eine Tatsache, dass ein völlig ungenügender Prozentsatz der Frauen und Mädchen mittlere und leitende Funktionen ausübt, obwohl 68,4 Prozent aller arbeitsfähigen Frauen im Alter von 16 bis 60 Jahren berufstätig sind. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Zahl der jungen Frauen und Mädchen, die für technische Berufs ausgebildet werden, zurückgeht. Das Politbüro des ZK der SED ist damit nicht einverstanden und fordert besonders die Mitglieder und Kandidaten der Partei auf, sich für die Überwindung dieses Widerspruchs einzusetzen.« 3
Es war mir auch vergönnt, ein anderes wichtiges Merkmal in Ulbrichts Führungsstil kennenzulernen. Er hielt nichts von allgemeinen Appellen. Ob es um Mängel und Versäumnisse ging oder um die Orientierung auf neue Aufgaben, er wollte stets, dass Ross und Reiter genannt werden. Darum wurden im Frauenkommuniqué lückenlos die Adressaten für den Auftrag genannt, in Fragen der Frauenförderung und ihrer Gleichstellung in der Gesellschaft in möglichst kurzer Zeit große Fortschritte zu erzielen: »Von den Genossen im Ministerrat und seinen Organen, in den Leitungen der Staatlichen Plankommission und des Volkswirtschaftsrates, in den Ministerien für Volksbildung, Verkehrswesen, Handel und Versorgung, im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, in den Leitungen der VVB, den örtlichen Staatsorganen und den Werkleitungen erwartet das Politbüro, dass Maßnahmen festgelegt werden, die zu einer Erhöhung des Anteils der Frauen in mittleren und leitenden Funktionen führen.«
Und um dies nicht dem Zufall zu überlassen, erhielten die Frauenförderungspläne einen höheren Stellenwert.
Jede Betriebsleitung und jeder Genossenschaftsvorstand waren verpflichtet, jährlich Frauenförderungspläne zu beschließen. In den volkseigenen Betrieben (VEB) und staatlichen Einrichtungen waren sie Bestandteil des Betriebskollektivvertrages, der zwischen den Betriebleitungen und den Belegschaften jährlich abgeschlossen wurde. Gesetzlich festgelegter Verhandlungspartner für die Werktätigen war die Betriebsgewerkschaftsleitung des FDGB. Natürlich gab es da auch manchen Formalismus, denn nicht überall wurden sie mit der nötigen Sorgfalt ausgearbeitet, und nicht in jedem Betrieb machten sich die Frauen stark genug. Dies wohl wissend stand im Kommuniqué der hohe Anspruch, Frauenförderungspläne »auf wissenschaftlicher Grundlage, d. h. entsprechend unserer großen Perspektive« zu erarbeiten. »Schon bei der Planung der Berufsausbildung und der Ausbildung der Hoch- und Fachschulkader ist die Rolle der Frau in der sozialistischen Gesellschaft und ihre Entwicklung auf technischen und naturwissenschaftlichen Gebieten mehr zu beachten.« 4
Natürlich hatte die Frauenförderung auch eine wirtschaftspolitische Komponente. Im Krieg waren viele Männer geblieben, die als Arbeitskräfte fehlten, und die Abwanderung und gezielte Abwerbung nach dem Westen riss erhebliche Lücken. Dennoch stand diese Frage nicht im Vordergrund der Abfassung des Frauenkommuniqués.
Ich erinnere mich, dass im Gegenteil Walter Ulbricht mich immer wieder ermahnte: In der Frauenpolitik dürfen die Buchhalter nicht das erste und letzte Wort haben. Er wollte damit ausdrücken, dass es um ein gesellschaftlich hochrangiges Problem ging, bei dem die Politik die Feder führen musste. Dies entsprang auch seiner festen Überzeugung, dass die Gleichberechtigung der Frau ein unabdingbares Prinzip des Marxismus-Leninismus ist.
Wie es praktisch gemeint war, lässt sich unter anderem an seiner unmissverständlichen Kritik an falschen Einstellungen erkennen. »Anstatt den Frauen und Mädchen zu helfen, mit ihrer größeren Belastung fertig zu werden, erfinden sie Argumente, die beweisen sollen, dass der Einsatz von Frauen in mittleren und leitenden Funktionen nicht möglich sei.
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