Walter Ulbricht (German Edition)
Sensation. Ich hatte den Vorgang auf dem Bildschirm zu moderieren. Pünktlich erschien in der Halle die komplette Parteiführung mit Walter Ulbricht.
Die Regie sagt: Achtung, wir starten! Ich erkläre den Vorgang und rufe die Außenstellen. Kiew meldet den Abgang der Signale. Das Rechenzentrum Karl-Marx-Stadt bestätigt den Eingang, und einige Sekunden später surrt der Datenschreiber in der Messehalle. Das Papierband, das er ausspuckt, zeigt aber keine codierte Daten, sondern einen Klartext in Großbuchstaben: »Wir grüßen den Ersten Sekretär des ZK der SED, Genossen Walter Ulbricht, und wünschen unseren deutschen Freunden viel Erfolg bei der Erfüllung des Fünfjahrplanes!«
Im Hintergrund springt die Maschine an. Ich nehme den Streifen und überreiche ihn gleich an den Adressaten. Ulbricht freut sich. Die Leute in der Halle klatschen. Die Sache ist gelaufen!
Die beteiligten Minister klopften sich und mir auf die Schulter. Später wurden zwei Dutzend Orden »Banner der Arbeit« nachgereicht. Bei dem anschließenden Empfang flüsterte der leitende Ingenieur: »Großartig, wie du die Panne bei der Datenfernübertragung überspielt hast!«
Ich fragte: »Welche Panne?«
»Na, du hast doch gesehen, dass keine technischen Daten aus Kiew ankamen? Wir hatten noch die ganze Nacht geknobelt, aber keine kompatible Computersprache für diesen Auftrag gefunden. Dann fiel uns die Grußadresse als Notlösung ein, und die kam aus Karl-Marx-Stadt und nicht aus Kiew, weil die Leitungen inzwischen zusammengebrochen waren.«
Günter Mittag stellte sich trotzdem auf’s Podest. Potjemkin hätte salutiert.
Ich weiß bis heute nicht, ob Walter Ulbricht etwas geahnt hatte, oder genau so getäuscht wurde wie alle anderen.
Zur dritten Begegnung kam es Ende der 60er Jahre im Gebäude des Staatsrates. Ulbricht hatte den Fernsehintendanten Heinz Adameck angerufen und um ein Gespräch gebeten. Weil Adameck dachte, es ginge um ein Interview vor der Kamera, nahm er mich mit. Ulbricht hatte aber kein Interview im Sinn, nur eine Nachfrage. Daraus wurde ein »Arbeitsessen« zu viert: Walter und Lotte, Adameck und ich. Die beiden wollten wissen, warum so viele Werke der Fernsehdramatik mit ihren Themen und Konflikten so weit von den Spitzenleistungen des Landes und seinen Schrittmachern entfernt seien.
Adameck erklärte, dass die Autoren viel im Stillen grübelten, meist abseits lebten, wenig Einblick hätten. Die Generaldirektoren und Forschungsleiter der Kombinate seien auch nicht sehr gesprächig. Und weil von der Idee bis zum Fernsehfilm allemal ein bis zwei Jahre vergingen, brauchten die Schöpfer einen ziemlichen Weitblick, um die Millionen Produktionskosten für einen Film nicht in den Sand zu setzen …
Lotte erzählte, was sie schreiben würde, wenn sie schreiben könnte.
Walter schlug vor, Exkursionen mit ausgewählten Autoren und Regisseuren zu organisieren, damit sie Feuer fingen. Er würde uns einige Türen und Panzerschränke aufschließen lassen, damit die Künstler einen Blick in jene Zukunft werfen könnten, die schon begonnen habe. Und darüber sollten sie dann schreiben und künstlerisch berichten.
Ich beteiligte mich an einer Exkursion auf dem Lande. Da ging es um die automatisierte Großproduktion von Milch: zweitausend Kühe, Fütterung in individuellen Portionen per Computer, Reinigung und Melken auf Knopfdruck, mit nur zwei Leuten im klimatisierten Stall – einer am Melkkarussell und einer in der Steuerungswarte.
Nach dem Gang durch die Seuchenschleuse, geduscht und in steriler Ganzkörperverkleidung wie in einem Operationssaal, marschierten wir zur Besichtigung. Die Kühe wurden per Signal aus ihren Boxen gerufen, formierten sich in stoischer Gelassenheit zum Gänsemarsch Richtung Melkanlage. Doch eine Kuh blieb plötzlich stehen, blickte zur Seite, sah eine offene Stalltür, schwenkte ab und trabte ins Freie.
Der Chef der Milchfabrik war entsetzt.
Doch die ganze Künstlertruppe war entzückt und spendete der »Abweichlerin« Beifall. Sie war der Held und lieferte das Thema – wie immer in der Kunst.
Was hätte Walter Ulbricht gesagt, wenn er das miterlebt hätte?
Und was erst Lotte!
Bernd Uhlmann
Ein moderner Mensch: ein sozialistischer Unternehmer
Bernd Uhlmann, Jahrgang 1939, Sohn einer tradionellen erzgebirgischen Unternehmerfamilie, Mitglied der NDPD seit 1962, Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig von 1969 bis 1973, Abschluss als Diplomjournalist, Abteilungsleiter beim Sekretariat des
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