Wandel
einen Moment lang über die zusammengelegten Fingerspitzen hinweg an. „Sicher nicht so, wie ich es für gewöhnlich gern habe, das mögen Sie richtig sehen.“ Er legte beide Hände flach auf den Tisch und lehnte sich ein wenig zurück. „Keiner von uns hat etwas davon, wenn das Treffen hier in eine Konfrontation ausartet, und bislang habe ich es noch nie bereut, wenn ich es Ihnen gestattet habe, mich von einem Feind zu befreien.“
„Das habe ich nicht getan, um Ihnen einen Gefallen zu erweisen.“
Marcone zuckte die Achseln. „Was kümmert mich Ihr Beweggrund? Die Ergebnisse zählen.“
„Vergessen Sie bloß nicht, dass Sie auch auf meiner Liste stehen, Marcone. Lassen Sie mich erst mal die Stadt von all dem anderen Abschaum befreien, irgendwann gehören Sie nicht mehr zu den geringeren Übeln, die noch warten können.“
Marcone starrte mich an, die Augen halb geschlossen. „Hilfe.“
„Finden Sie das witzig?“
„Wegen Toter lasse ich mir keine grauen Haare wachsen, Dresden.“
Ich setzte mich auf. „Soll das eine Drohung sein?“
„Eher nicht. Eines schönen Tages – und der liegt höchstwahrscheinlich nicht einmal in allzu weiter Ferne – werden Sie dran glauben. Das liegt dann allein an Ihnen und den Zwangsvorstellungen, die Sie so leidenschaftlich kultivieren und die Sie Gewissen nennen. Glauben Sie mir, das passiert lange, bevor mein Name auf Ihrer Liste ganz nach oben gerutscht ist, und ich muss noch nicht mal einen Finger krumm machen.“ Er zuckte die Achseln. „Also gebe ich Ihnen Informationen, denn damit beschleunige ich den Prozess, der unweigerlich zu Ihrem Ende führen wird. Außerdem strapaziert das die Ressourcen meiner Feinde.“ Nach kurzem Nachdenken fügte er noch hinzu: „Ich glaube, wenn es um eine Organisation geht, die Kinder auf solche Art zu Opfern macht, habe ich auch persönlich nichts dagegen, meinen Beitrag zu leisten.“
Ich musterte ihn mit finsterem Blick. Finster zum einen, weil er mit der Prophezeiung in Bezug auf mein Ende vermutlich recht hatte. Zum anderen, weil er wieder mal diesen Funken Barmherzigkeit hatte durchschimmern lassen, der mich hinderte, ihn mit all den anderen bösen, heißhungrigen, raubtiergleichen Erscheinungen in einen Topf zu werfen, die die große, weite Welt unsicher machen. Marcone tat alles, wirklich alles, um Kindern zu helfen und sie zu schützen – dafür gab es bestimmt Gründe, aber die kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass jeder Erwachsene in Chicago Freiwild für ihn war, wenn es um seine Geschäfte ging. Kinder jedoch waren tabu, und Gerüchten zufolge war bislang noch jeder seiner Leute spurlos verschwunden, der dieses Tabu gebrochen und entsprechende Grenzen überschritten hatte.
Gard war zurückgekommen und baute sich stirnrunzelnd neben unserem Tisch auf.
„Nun?“, wollte Marcone wissen.
Gard zögerte kurz. „Er will am Telefon nicht darüber sprechen“, sagte sie schließlich. „Er sagt, er hätte bei Ihnen keine Verbindlichkeiten offen, die Ihnen das Recht gäben, solche Fragen zu stellen. Er will nur mit Dresden reden. Persönlich.“
„Interessant.“ Marcone hob die Brauen.
„Das fand ich auch“, meinte Gard.
„Entschuldigung“, mischte ich mich in das kleine Zwiegespräch. „Wer will sich mit mir treffen?“
„Mein … Boss“, sagte Gard. „Donar Vadderung, Vorstandschef von Monoc Securities.“
21. Kapitel
G ard und ich reisten nach Oslo.
Was nach einer langen Reise klang, aber keine sein musste, wenn man es nicht nötig hatte, sich an Fahrpläne zu halten, weder beim Einchecken noch bei den Sicherheitskontrollen oder beim Zoll Schlange stehen musste und sowieso gar keine lineare Distanz zurücklegte.
Gard öffnete unten in der Nähe des Zoos einen Durchgang zum Niemalsland, und zwar ganz einfach, indem sie den Stoff der Realität mit einem Dolch durchtrennte, in dessen Klinge Runen eingeritzt waren. Auf einer kurzen Wanderung durch einen dunklen Wald aus abgestorbenen Bäumen gelangten wir nach Island – wie meine Begleiterin mir mitteilte, ich kannte mich da oben nicht so aus. Kalt genug war es. Ein zweiter Weg führte uns über einen zugefrorenen See zu einem riesigen alten Baum, dessen Stamm meine ganze Wohnung hätte in sich aufnehmen können, und hinterher wäre noch Platz genug für eine Garage gewesen. Dort verließen wir das Niemalsland und tauchten in einem kalten, feuchten Keller auf, wo ich mich unversehens zwei Dutzend Männern gegenüber sah, die Körperpanzerung
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