Wanderungen durch die Mark Brandenburg 4. Spreeland.: Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow
zugeschickt oder später gegeben werden. Meinen letzten Brief hab ich am 15. geschrieben und Dich gebeten, mir eine neue Uniform zu schicken. Als ich den Brief schrieb, hab ich nicht gedacht, daß ich drei Stunden später in Thionville sein würde. Es ist merkwürdig, wie dieses Geschick so plötzlich über mich hereingebrochen ist. Wenn ich wenigstens vorher mir Zeit genommen hätte, nachzudenken und mich auf die Folgen gefaßt zu machen. Ich könnte wenigstens sagen, es sei meine Schuld. Es wär aber dann gar nicht passiert. Ich wundre mich selbst, daß ich keinen Menschen um Rat gefragt habe; man hätte mir doch entschieden abgeraten. Es ist aber auch möglich, daß ich es trotzdem getan hätte; dann würd ich mir noch mehr Vorwürfe machen. Ich kann mir nicht klarwerden darüber. Das Ganze ist nicht weniger sonderbar, als wenn ich jetzt plötzlich bei Euch sein würde. Was man nur bei meinem Regimente davon denkt! Auf alle Fälle wär ich noch vor das preußische Kriegsgericht gekommen. Es wär aber doch besser gewesen, ich hätte Euch wenigstens wiedergesehen.
Ich bin verurteilt worden nach dem Artikel 207, der wörtlich lautet: ›Est puni de mort tout ennemi, qui s'introduit déguisé dans une place de guerre‹ etc. Man hat keine mildernde Umstände anerkannt.
Ich nehme jetzt Abschied von Euch, meine lieben Eltern. Es ist mir recht traurig zumute. Ich weiß, daß Ihr mir verzeihen werdet. Es wäre so schön, wenn wir uns wiedersähen! Wenn ich aus dieser Lage gerettet worden wäre, ich hätte mich bemüht mich stets dankbar gegen Euch zu bezeugen. Es wird mir so schwer ums Herz, daß ich so weit von Euch auf so traurige Weise aus dem Leben scheiden muß. Dieser Brief ist wahrscheinlich der letzte, den Ihr von mir empfangt. Grüße alle Bekannte, Stich, Wilhelm, Wally und Anna. Es ist mir so schmerzlich, wenn ich Eure Bilder in dem Medaillon betrachte!
Ich danke Euch für alles Gute und alle Liebe, die Ihr mir bewiesen habt. Tröstet Euch, meine lieben Eltern. Ich habe noch zwei Briefe von Mama; ich lese sie oft; es gibt mir Trost. Nach dem Kriege werdet Ihr das Medaillon erhalten. Ich weiß noch, lieber Papa, als Du es mir gabst, sagtest Du: ›es sollte mir ein Talisman sein‹. Ich habe stets eine große Anhänglichkeit daran gehabt. Mama soll es behalten. Lebt wohl, lieber Papa und Mama, vergebt mir. Tröstet Euch. Seid gegrüßt von Eurem Sohn Alexander Anderssen.«
Kurz vor seinem Tode schrieb er noch folgendes:
»Liebe Eltern! Das Urteil wird morgen, Sonnabend, den 29., vollstreckt. Es ist jetzt die Nacht vom 28. zum 29. Ich habe vor drei Stunden einen Brief an Euch geschrieben; der Kommissar der Republik hat ihn abgeholt. Ich danke Euch nochmals für Eure große Liebe zu mir. Herrn von S. habe ich gebeten, dafür zu sorgen, daß Ihr meine Sachen bekommt. Den kleinen Ring schenke ich Wally. Es ist der Stein aber verloren.
Nachschrift: Es ist Sonnabend, 29. Oktober, morgens fünfeinhalb Uhr. Um sechseinhalb Uhr ist die Exekution. Ich sage Euch noch einmal, eine Stunde vor meinem Tode, Lebewohl und bitte Euch, Euch bald zu trösten. Lebt wohl. Euer Sohn Alexander Anderssen.«
Ich muß hier den Gang der Erzählung einen Augenblick unterbrechen. Diese Schriftstücke, in ihrer schlichten und tiefinnerlichen Abfassung, berühren mich auch heute wieder, wo ich sie zum Druck gebe, als wahre Musterstücke schönen Menschentums. Gleich schön in ihrem Kampf wie in ihrem Sieg. In dem ersten, längeren Brief noch ein Ringen, der Schmerz des Sich-losreißen-Müssens; in dem zweiten Brief und seiner Nachschrift die ganze Ruhe dessen, der überwunden hat. Von Heldenkomödie und Feigheitswinselei gleich fern, gönnen uns diese Zeilen einen Einblick in ein nobles und durch Todesbitterkeit geläutertes Herz.
Um sechseinhalb Uhr hielt der Wagen vor dem maison d'arrêt. Anderssen war fertig. Eine Zigarette anzündend, ein paar andere zu sich steckend, stieg er rasch in den Fiaker hinein. Angesichts des Todes hatte er ganz jene elastische Nervosität, jene Beherrschungskraft wiedergewonnen, die ihn von Jugend auf so sehr ausgezeichnet hatte. Die Aussagen des Gefangenwärters, des Exekutionskommandos, endlich des Kommandanten selbst lassen darüber keinen Zweifel. In dem Wallgraben angekommen, wo die Exekution stattfinden sollte, lehnte er Niederknien und Augenverbinden ab. Aufrecht stellte er sich vor die Gewehrläufe. »Gut schießen«, wandt er sich an die Mobilegarden-Sektion; »hierher«, und
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