Wandlung
Stiefvater, Leo, ein Teppichleger. Eigentlich ein ganz netter Mann, der sich während des letzten Jahres ihrer Eierstockkrebserkrankung um Sians Mutter gekümmert hatte. Jedes Jahr verbrachte sie den ersten Weihnachtstag in seinem kleinen Reihenhaus und nahm mit ihm zusammen ein klassisches Weihnachtsmahl vor dem Fernseher ein, trotzdem waren sie über den Austausch oberflächlicher Höflichkeiten nie hinausgekommen. Drei Jahre war das jetzt her. Oft fragte sie sich, ob er wohl eine neue Freundin hatte, irgendeine Geschiedene mit eigenen Kindern. Vielleicht wollte er Sian aus seinem Leben entfernen und wusste bloß nicht, wie.
Leo war ein attraktiver, tüchtiger Mann. Unter dem Bett bewahrte er ein Bajonett gegen mögliche Diebe auf. Bestimmt ging es ihm gut.
Sian knüllte den Bogen zusammen. Besser so, dachte sie. Dann muss ich mich nur um mich selbst kümmern.
Sie schenkte sich an der Kaffeemaschine einen Pappbecher voll ein. Milchpulver und Zucker wurden von
Punch nicht mehr ausgegeben, sodass ihn alle schwarz und ungesüßt tranken.
Jane saß in ihrem Zimmer, auf dem Schoß einen Schreibblock, und schrieb ein paar liebevolle Worte an ihre Mutter und Schwester. Dann verfasste sie einen Brief im Namen der gesamten Mannschaft.
Mein Name ist Reverend Jane Blanc. Ich bin die Geistliche auf der Con-Amalgam-Raffinerie-Plattform Kasker Rampart. Wir befinden uns innerhalb des nördlichen Polarkreises, westlich von Franz-Joseph-Land, und sind von der Außenwelt abgeschnitten. Unsere Vorräte reichen noch für vier Monate. Der Wintereinbruch steht bevor. Gut möglich, dass wir bereits tot sind, wenn Sie dies lesen. Wir haben wenig Hoffnung auf Rettung, und jeder Versuch, sich mit einem behelfsmäßigen Boot in Sicherheit zu bringen, ist wegen der großen Entfernung zu bewohnten Gebieten nahezu sicher zum Scheitern verurteilt. Immer wieder verspreche ich den Männern, dass wir alle nach Hause zurückkehren werden, obwohl ich nicht die geringste Vorstellung habe, wie das zu bewerkstelligen wäre oder welches Grauen uns jenseits des Horizonts erwarten mag. Daher bitte ich den Finder dieser Nachricht: Bitte tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende, um dafür zu sorgen, dass diese Briefe ihre jeweiligen Empfänger erreichen, damit sie über unser Schicksal unterrichtet werden.
Möge Gott Sie segnen,
Jane Blanc
Jane steckte die Briefe in einen Umschlag und klebte ihn
zu, dann brachte sie ihn in die Kantine und steckte ihn in den Kasten.
Plötzlich eine Durchsage über die Sprechanlage: »Mr. Rawlins, Reverend Blanc, melden Sie sich bitte sofort in der Sanitätsstation.«
Sian. Dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung.
Simon lag in Fötalstellung zusammengekrümmt auf dem Boden der Duschkabine; er war tot. In den geschwollenen, schwarz verfärbten Fingern seiner linken Hand hielt er ein Skalpell. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und lag nackt in einer Lache aus rosafarbenem, blutigem Wasser und abgewickelten Bandagen.
»Gottverdammter Mist.«
Rawlins drehte das Wasser ab. Jane half, den Toten aus der Dusche zu ziehen.
Sie trugen Simon zum OP-Tisch und schauten zu, wie Sian ihn abwusch, hoben ihn dann in einen Leichensack aus Gummi und zogen den Reißverschluss zu.
Da es auf der Bohrinsel keine Leichenhalle gab, legten sie Simon über Nacht im Bootshaus auf den Fußboden.
»Er hat noch mit mir gesprochen, wollte sich jemandem mitteilen. Das war ein Hilferuf, nur war ich zu blöd, ihn zu verstehen.«
»Das Leben eines Menschen gehört alleine ihm«, sagte Jane. »Es ist nicht deine Aufgabe, es zu retten.«
Nikki saß in der Aussichtskuppel und las in einer Zeitschrift.
»Die Beerdigung findet um drei Uhr statt«, sagte Jane.
Nikki blätterte in den Seiten, als hätte sie sie nicht gehört.
Wie in einer Prozession stieg die Besatzung die stählernen Stufen hinunter, die sich um jeden der gewaltigen Schwimmauflager der Bohrinsel wanden. Sie überquerten die Eisfläche und versammelten sich an der Wasserkante.
Mit behandschuhten Händen blätterte Jane in ihrem Gebetbuch.
»Herr im Himmel, dessen Sohn Jesus Christus ins Grab gelegt ward: Bitte segne dieses Grab als den Ort, an dem der Körper Deines Dieners Simon in Frieden ruhen möge, durch Deinen Sohn, der die Wiederauferstehung ist und das Leben, der gestorben ist und wiederauferstanden, und der mit Dir herrscht jetzt und immerdar.«
Man hatte Simon in Laken eingewickelt, er lag auf einer
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