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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Wir fuhren geradewegs nach Hause. Das war am 30.   April, im fünften Jahr unserer Ehe.
    In jener Nacht schlief ich sehr tief. Als wäre ein starker Strom durch mich hindurchgeflossen, der einen Kurzschluß verursacht hatte, so daß es in der Seele dunkel geworden war. Als ich erwachte und in den Garten hinausging – es war ein lauer Frühlingsmorgen mit einem an den Scirocco gemahnenden warmen Wind, und seit einigen Tagen wurde der Frühstückstisch draußen gedeckt –, war mein Mann schon fort. Ich frühstückte allein, trank in kleinen Schlucken den ungezuckerten, bitteren Tee und mochte nichts essen.
    Auf dem Tisch lagen Zeitungen. Ich las zerstreut eine in großen Lettern gedruckte Schlagzeile. An dem Tag war ein kleiner Staat von der Weltkarte verschwunden. Ich versuchte mir vorzustellen, was die Leute in dem fremden Land empfanden, nachdem sie in der Morgenfrühe erfahren hatten, daß ihr Leben, ihre Lebensformen, alles, woran sie geglaubt und worauf sie geschworen hatten, von einem Tag auf den andern verschwunden war, daß es nicht mehr galt und daß jetzt etwas ganz anderes begann – vielleicht etwas Besseres, vielleicht etwas Schlechteres, aber jedenfalls etwas so wirklich und endgültig anderes, als wäre das Land, ihre Heimat, im Meer versunken, so daß sie von nun an unter veränderten Lebensbedingungen existieren mußten, unter Wasser. Daran dachte ich. Und auch daran, was ich nun eigentlich wollte. Was für einen Befehl hatte ich erhalten, was für eine Botschaft des Himmels? Was hatte der anhaltende Aufruhr in meinem Herzen für einen Sinn? Was war mein Kummer, mein Gekränktsein, mein Leid, gemessen am Elend der Millionen von Menschen, die beim Erwachen feststellen mußten, daß sie das Wertvollste im Leben verloren hatten, die Heimat, die selbstverständliche, anschmiegsame Vertrautheit, die familiäre Hausordnung. Und doch blätterte ich zerstreut in den Zeitungen, ich konnte mich nicht mit ganzer Seele auf die weltbewegenden Nachrichten konzentrieren. Ich fragte mich, ob ich in einer solchen Welt das Recht hatte, so verkrampft, so besessen die Frage zu verfolgen, was aus mir würde. Was bedeutete es angesichts des Leides von Millionen, daß mein Mann mir nicht voll und ganz gehörte? Was zählte das Geheimnis meines Mannes, was zählte mein persönliches Unbehagen, verglichen mit dem Geheimnis der Welt? … Das sind aber Pseudofragen, weißt du … Eine Frau hat kein Weltgefühl. Dann dachte ich, daß der alte Beichtvater vielleicht recht gehabt hatte. Vielleicht war es wirklich so, daß ich zuwenig tief, zuwenig demütig glaubte … Vielleicht war etwas Hochmütiges in meinem wahnwitzigen Unterfangen, etwas, das eines Menschen, eines Christen, einer Frau unwürdig war in dieser Detektivaufgabe, die ich mir gestellt hatte, um aus dem Dickicht des Lebens das Geheimnis meines Mannes, die Frau mit dem violetten Band, hervorzuzerren.
    Vielleicht …, viele solcher »Vielleicht« lärmten in meinem Kopf.
    Ich saß im Garten, der Tee war kalt geworden, die Sonne schien. Die Vögel zwitscherten aufgeregt. Mir fiel auch ein, daß Lázár den Frühling nicht mochte, daß er gesagt hatte, das Sprießen und Dampfen dieser Jahreszeit vermehre die Magensäure und bringe Verstand und Gefühle aus dem Gleichgewicht … Und dann kam mir auf einmal alles in den Sinn, was wir ein paar Stunden zuvor geredet hatten, nachts, in dem hochmütigen kalten Haus, bei Musik, am Springbrunnen im stickigen Dschungelduft des Wintergartens. Jetzt fiel es mir wieder ein, und es kam mir so vor, als hätte ich es irgendwo gelesen.
    Kennst du das Gefühl, wenn man in der tragischsten Situation des Lebens auf einmal jenseits des Schmerzes und der Verzweiflung steht und seltsam nüchtern und gleichgültig wird, ja, beinahe fröhlich? Zum Beispiel wenn einem beim Begräbnis des geliebten Menschen plötzlich einfällt, daß man zu Hause aus Versehen die Kühlschranktür offengelassen hat und der Hund sich über das Fleisch hermachen könnte, das für den Leichenschmaus bereitliegt. Und während am Grab noch gesungen wird, beginnt man flüsternd und vollkommen ruhig in Sachen Kühlschrank aktiv zu werden … Denn auch das ist in uns, zwischen so unendlich weit voneinander entfernten Ufern leben wir.
    Ich saß in der Sonne und erinnerte mich gelassen und kühl an alles Geschehene, als dächte ich über das traurige Los eines anderen Menschen nach. Jedes Wort, das Lázár gesprochen hatte, kam mir wieder in den Sinn, aber keins

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