War da noch was - Roman
Laura?«, bemerkte mein Vater, bevor er nach der Times griff und sie aufschlug, um sie zu seinem Kaffee zu lesen. Er raschelte laut damit herum und verschwand dahinter. »Gib ihm von Zeit zu Zeit mal die Chance, sich aus dem Schoß der Familie zu entfernen und durchzuatmen, ja?«
Lächelnd rekapitulierten Hal und ich das Ganze, als wir etwas später Hand in Hand durch den Garten zum Fluss hinunterspazierten.
»Komisch, was?«, sagte ich und legte die Hand über die Augen, um zu den Wildenten auf der anderen Seite
des Flusses zu schauen, die im dunstigen Herbstlicht planschten und flatterten. »Auf den ersten Blick hat diese Familie alles. Aber lange Zeit war das nicht so. Alle hatten Angst vor Luca und sind auf Zehenspitzen um ihn herumgeschlichen. Aber wenn jeder einzelne ein bisschen ehrlicher mit sich und den anderen gewesen wäre, dann hätten sie sich über die Jahre viel Kummer ersparen können. «
Hal zog die Augenbrauen in die Höhe. Ich errötete. »Was ganz schön dreist klingt, wenn es aus meinem Mund kommt, ich weiß«, fuhr ich rasch fort. »Aber es macht einen so verletzlich, wenn man ehrlich ist, Hal, das ist das Problem. Und ich hatte so viel zu verlieren.«
»Du hast jetzt viel gewonnen«, stellte er fest und richtete den Blick in die Ferne, wo Seffy und Cassie gegen Biba und Daisy ein Doppel spielten. Wir lauschten dem Geräusch der Bälle, dem Lachen.
»Seffy hat sie gewonnen. Ich kann keinerlei Anspruch auf Cassie erheben — das wäre unredlich. Ich habe das Gefühl, ihr jahrelang wissentlich etwas vorenthalten zu haben. Ich kann jetzt nicht einfach kehrtmachen und sagen — hey, toll, schön, dass du die Schwester meines Sohnes bist, willkommen!«
»Nein, aber du wirst überrascht sein, wie flexibel junge Menschen sind und wie leicht sie einem vergeben können. «
Das stimmte, wie ich selbst erfahren hatte, und meine eigene Familie war das neueste und beste Beispiel dafür, obwohl sie nicht einmal mehr alle jung waren. Einer nach dem anderen waren sie in den letzten Tagen zu mir gekommen, um mir zu sagen, wie sehr sie sich über die Sache mit Seffy freuten, wie glücklich sie wären. Und nicht, wie betrogen und belogen sie sich nach all den Jahren
fühlten. Laura und ich hatten stundenlang in ihrem Zimmer geredet, jeden Augenblick unter die Lupe genommen, und waren in der Erinnerung Jahre zurückgegangen bis damals, als wir die Wohnung in Pimlico geteilt hatten. Bis zu Dominic. Die Mädchen, denen man es auch erzählt hatte, hatten sich gegen Ende unseres Gesprächs hereingeschlichen und sich mit angezogenen Beinen aufs Bett gehockt. Sie wollten die ganze Geschichte noch einmal hören, von Anfang an, bitte, Hattie. Ihre Mutter hatte protestiert, weil sie meinte, das wäre nichts für ihre Ohren, aber ich fand, dass es das ganz sicher war: dass ich es ihnen allen schuldete. Und so fing ich wieder an, meine traurige Geschichte von Anfang an zu erzählen. Und zu meiner Überraschung wurde es von Mal zu Mal ein wenig leichter. Ein kleines bisschen weniger beschämend. Mum und ich machten einen Spaziergang ins Dorf unter dem Vorwand, Käse zu kaufen. Wir saßen auf einer Bank am Teich und kamen schließlich erst nach Anbruch der Dunkelheit wieder nach Hause und zwar ohne den Käse. Die Offenheit und das Verständnis meiner Familie waren für mich ein großer Trost. Und, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, auch eine große Überraschung. Mein Vater sagte nicht viel, abgesehen von einer knappen Umarmung, als ich ihm abends gute Nacht sagen wollte, und der schroffen Versicherung, dass er mehr als freudvoll wäre. Anfänglich hatte es mir Sorgen gemacht, obwohl ich ja wusste, dass es nicht seine Art war, gleich mit einem Haufen Fragen über mich herzufallen. Als er allerdings irgendwann einmal beiläufig erwähnte, dass er mich gerne im nächsten Monat zu einem kleinen Ausflug nach Venedig einladen würde, ein verlängertes Wochenende, wie er es auch mit Hugh und Laura im vergangenen Jahr gemacht hatte, da wusste ich, dass wir beide dann Zeit haben würden.
Cassie gegenüber fühlte ich mich allerdings unbeschreiblich unsicher und ging ihr meistens aus dem Weg. Sie war es schließlich gewesen, die zu mir kam und mir mit glänzenden Augen und geröteten Wangen voller Begeisterung erklärte, wie sehr sie sich freute, Seffy gefunden zu haben und mich auch, wie sie großzügig hinzufügte. Mir blieb vor Scham die Luft weg. Schließlich hatte ich mit ihrem Vater geschlafen. Warum sollte sie
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