Warte, Bald Ruhest Auch Du: Mitchell& Markbys Dritter Fall
den Toten vielleicht identifizieren konnte. Es war ganz offensichtlich die Fotografie einer Leiche. Sie war gesäubert und in Ordnung gebracht worden, aber es war dennoch der Kopf eines toten Mannes. Gefühl, Ausdruck, die flackernden Wechsel leidenschaftlichen Lebens ausgelöscht, war der Kopf nur noch eine Maske aus Papiermaché mit geschlossenen Augen. Die Wangen waren eingesunken. Das Gesicht sah wahrscheinlich schmäler als zu Lebzeiten des Mannes aus. Markby war einmal gerufen worden, sich die sterblichen Überreste eine bekannten Playboys anzusehen, der, wie manche gesagt hätten, nicht zu früh gestorben war. Markby war aufgefallen, wie würdevoll die Leiche aussah. Der Tod hatte alle Spuren des ausschweifenden Lebens gelöscht, die Ringe unter den Augen geglättet und die Lider über Pupillen geschlossen, die, vom Laster gezeichnet, nur noch matt geschimmert hatten. Die roten Lippen waren blaß geworden, und etwas wie Friede hatte den Ausdruck übersättigten Weltüberdrusses verdrängt. Auch dieses Gesicht war ein totes Gesicht. Es war leer, sagte einem nichts. Es gab Kulturen, in denen der Priester bei der Beerdigung seine Ansprache an den Toten richtete, der im Kerzenschein im offenen Sarg lag. Die Fragen des Priesters konnten nie etwas anderes sein als rhetorisch. Wenn die dahingeschiedene Seele die Antwort auf das Rätsel des Todes gefunden hatte, würde sie sie keinem Lebenden je verraten. Trotzdem – da war etwas an diesem Gesicht, etwas, das Markby nicht in Worte fassen konnte. Irgend etwas nagte an ihm. Er wünschte, er käme dahinter, was es war. Er saß an seinem Schreibtisch und studierte das Foto des Opfers gute fünf Minuten. Dann schaute Sergeant Pearce durch die halb offene Tür herein und räusperte sich taktvoll.
»Ein Mr. Newman von der Baufirma möchte Sie sprechen, Sir.« Mit gesenkter Stimme fügte Pearce hinzu:
»Ihm sitzen die Bauherrn im Nacken. Sie haben eine Strafklausel im Vertrag. Er war heute morgen auf der Baustelle, und als er gesehen hat, was dort los ist, hat er Schiß gekriegt. Ich glaube, die Arbeiter streiken und arbeiten streng nach Vorschrift. Und Hersey hat gemeckert.«
»Ach, wirklich?« Markby legte das Foto mit der Bildseite nach unten in den Ablagekorb.
»Bringen Sie Mr. Newman herein, ja?« Newman war eine sehr erfolgreiche einheimische Firma, aber Markby hatte den Bauunternehmer nie persönlich kennengelernt und blickte neugierig auf, als ein stämmiger Mann mit schütteren Haaren energisch den Raum betrat. Die zurückhaltende Wachsamkeit in seinen Augen stimmte nicht mit seinem selbstbewußten Auftreten überein. Er reichte Markby über dem Schreibtisch die Hand.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Chief Inspector. Ich hoffe, wir können die Sache heute klären. Seit Montag wurde auf der Baustelle noch kein Strich getan, und ich bin überzeugt, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das kostet – von den Unannehmlichkeiten abgesehen. Unser Arbeitsplan läßt uns keinen Spielraum.«
»Auf der Baustelle sind wir fertig«, sagte Markby freundlich. Er war aufgestanden, um Newman zu begrüßen, setzte sich jetzt wieder und zeigte auf einen dicken Ordner, der auf seinem Schreibtisch lag.
»Wir haben unsere Fotografien, die Ergebnisse der Bodentests und die Berichte über Reifen- und Fußabdrücke. Sie können mit der Arbeit wieder anfangen.«
»Ja, ja, das weiß ich zu schätzen – es geht um die Belegschaft.« Newman rieb sich ruckartig die Hände. Er trug einen breiten Goldreif – einen Ehering? Nein, es ist die falsche Hand, dachte Markby.
»Natürlich ist mir klar, daß Sie Ihre Arbeit tun mußten, aber Ihre Leute haben jeden Mann einzeln vernommen, und – nun ja – einige haben sich darüber sehr aufgeregt.«
»Oh! Warum denn das? Das waren doch nur ein paar routinemäßige Fragen.« Einen Moment lang wirkte Newman erschrocken und beeilte sich, den falschen Eindruck zu korrigieren, den er unwissentlich erweckt hatte.
»Ja, natürlich. Ganz offensichtlich hatte keiner etwas damit zu tun – aber ich meine, o verdammt, ein paar mögen eben keine Polizisten, Chief Inspector. Hören Sie, Sie müssen begreifen, wie das ist …«
»Ich bin weder Finanzbeamter«, sagte Markby freundlich,
»noch arbeite ich bei der Sozialhilfe.«
»Bei uns gibt es derartigen Unsinn nicht – ich meine, den Unsinn, auf den Sie anspielen«, fuhr Newman auf.
»Auf keiner unserer Baustellen. Wir haben keine Schwarzarbeiter, und die Leute führen ihre Steuern und
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