Warte, Bald Ruhest Auch Du: Mitchell& Markbys Dritter Fall
Jessica holte mich ein. Sie hat sich mit dem Hirten unterhalten, einem großen Burschen mit roten Haaren.«
»Das war Alwyn Winthrop, ihr Bruder«, sagte Mrs. Carmody nickend.
»Oh, und ich habe schon geglaubt, es handle sich um eine ländliche Romanze. Geschieht mir recht.« Mrs. Carmody seufzte.
»Wäre nett, wenn Jess einen Verehrer hätte. Der Altersunterschied zwischen ihren Brüdern und ihr ist ziemlich groß. Alwyn ist der älteste, und James – ihn werden Sie nicht kennenlernen, weil er irgendwo in Übersee arbeitet – ist ungefähr drei Jahre jünger als Alwyn. Als die Jungs so um die Zwanzig waren, überraschte Elsie Winthrop uns mit einem dritten Baby. Wechseljahrsbaby, wie es so schön heißt. Das ist Jess. Ein hübsches kleines Ding, aber immer kränklich und nervös. Eben ein Kind älterer Eltern, sage ich.« Das war ich auch, dachte Meredith. Vielleicht sind wir alle ein bißchen anders.
»Aber sie war auch ein kluges kleines Ding. Sehr gut in der Schule, wollte Lehrerin werden. Sie ging an die Pädagogische Hochschule und bekam auch eine Anstellung. War aber nicht robust genug. Man braucht gute Nerven, wenn man unterrichten will, besonders heutzutage. Sie hatte ein sehr schlimmes Erlebnis …«
»Ja …«
»Sie wurde von einem Schüler angegriffen. Einem großen Kerl, noch nicht mal zwölf Jahre alt, aber mit dem Körperbau eines viel älteren Jungen. Es gibt solche Jungs, wissen Sie? Er kam aus einer ziemlich wilden Familie, viel Gewalttätigkeit zu Hause, vermute ich. Jedenfalls ist er eines Tages mit einer Papierschere auf Jess losgegangen. Es war eine stumpfe Schere, wie man sie eben in Schulen verwendet, aber verletzen kann sie trotzdem, kommt darauf an, wohin man sticht. Sie mußte sich gegen ihn wehren, im wahrsten Sinn des Wortes. Schließlich konnte sie ihn wegstoßen, er verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Kopf auf einen Sessel. Natürlich gab’s danach eine Untersuchung, wie Sie sich vorstellen können. Die Familie des Jungen witterte Geld. Sie behauptete, Jess hätte den Jungen angegriffen, nicht andersrum, und er sei viel schwerer verletzt als sie. Es war eine sehr häßliche Geschichte und kam vor Gericht. Jess wurde völlig entlastet. Alle wußten, was mit der Familie des Jungen los war. Aber trotzdem bleibt nach so einer Sache ein Makel an einem hängen. Man verläßt einen Gerichtssaal nie ganz straffrei, wissen Sie, auch dann nicht, wenn man unschuldig ist. Jess hat gewußt, wenn ihr so was noch einmal passiert, selbst wenn es nach Jahren ist, würde es jemanden geben, der sagt, zweimal ist einmal zuviel, um nur Pech zu sein. Die Freunde des Jungen wußten das auch. Sie verspotteten sie, versuchten sie so weit zu reizen, daß sie die Beherrschung verlor oder sie aus Angst einfach wegstieß. Es machte sie krank. Es stand sogar in der überregionalen Presse, und eine der LehrerGewerkschaften mischte sich ein. Arme Jessica.«
»Ich verstehe. Wirklich schlimm.«
»Also hat sie den Beruf aufgegeben und ist nach Hause gekommen. Es geht ihr jetzt besser. Doch Fremde machen sie nervös. Ich habe Jess gern. Ich …« Mrs. Carmody verstummte abrupt, schaute sich im Zimmer um. Dann begann sie, die Augen hartnäckig auf ihren Schoß gerichtet, ihren Tee zu trinken. Ob Jessica wohl Mrs. Carmodys Erbin ist? fragte sich Meredith. Wenn Mrs. Carmody niemand sonst hat und trotzdem die Wertsachen nicht verkaufen will, könnte es sein, weil sie sie jemandem testamentarisch vermacht hat. Jessica kommt fast jeden Tag her und hilft. Mrs. Carmody hat sie offensichtlich sehr gern. Ob sie sich vielleicht vorstellt, daß Jessica eines Tages heiraten und die Farm wieder bewirtschaften wird? Oder geht meine Phantasie mit mir durch?
»Die Farm der Winthrops, Greyladies – was für ein merkwürdiger Name. Greyfriars habe ich schon gehört, Greyladies noch nie. Wahrscheinlich waren das Nonnen, ein altes Kloster.«
»O nein, meine Liebe. Religiös schon, aber nicht von dieser Art.« Mrs. Carmody stellte die Tasse ab.
»Es war eine sehr strenge Sekte im achtzehnten Jahrhundert. Sie setzte sich in der Stadt fest, in Bamford. Doch der Pfarrer und der Friedensrichter verhinderten, daß sie in der Stadt ein eigenes Gebetshaus errichtete. Am Ende baute sie es außerhalb der Stadt auf dem Land, das jetzt zur Greyladies Farm gehört. An Sonntagen sahen die Leute ihre Mitglieder über die Felder zum Gebetshaus gehen, zuerst die Männer gemeinsam, hinter ihnen die Frauen, immer zu zweit, in langen
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