Warum aendert sich alles
Fähigkeiten, die zu allen Menschen gehörten, sind an maschinelle Systeme delegiert worden und erleben dort hochgradige Eigenentwicklungen in immer neuen Schüben der EntäuÃerung. Die einst mühsam erlernte eigene Hand- und Schönschrift ist an die Schreibmaschine delegiert, der gestaltlose Tastendruck wird elektronisch in vorgeformte Symbole transformiert. Schön schreibt niemand mehr. Der »homo delegans« entledigt sich in seinem kulturellen EvolutionsprozeÃseiner rudimentären Fähigkeiten und kann sie durch Isolierung steigern und ins Nichtwiedererkennbare perfektionieren. Das Mitleid und die Fürsorge übernimmt der Staat durch moderate Umschichtung durch die Steuergesetze. Der iconic turn ist in Wirklichkeit keine Wende, sondern ein ProzeÃ, in dem in immer perfekterer Form die eigene Phantasie und Einbildungskraft an Bildmedien delegiert werden; der Wildwuchs im eigenen Kopf ist den artistischen Bilderwelten im Fernsehen gewichen â wie kann die private Phantasie je die Perfektion der spezialisierten Anstalten erreichen? Das moderne Haus ruft bei der Feuerwehr an, wenn es zu brennen beginnt â welcher menschliche Bewohner hat einen so feinen Geruchssinn wie das Schutzsystem seines Hauses? Radfahrer sollten die übernatürliche Steigerung von Geschwindigkeit und Ausdauer nicht an Dopingmittel im eigenen Körper delegieren, sondern, schon aus Gesundheits- und Kontrollgründen, an einen unsichtbaren lautlosen Motor im Gestänge des Fahrrads; es geht los wie der Blitz.
Wer kann sich noch seines eigenen Verstandes bedienen, wie die verträumten Aufklärer wollten? Wer kann den Computer programmieren, die StraÃenbahn lenken und Aspirin erfinden? Es sind immer andere, die dies können müssen, und dem eigenen Verstand bleibt nur ein kleines Schlupfloch, in dem er das alles aufschreibt.
Die Natur hat offenbar nach der Kreation des Delegationsspezialisten Mensch mit der eigenen Weiterentwicklung Schluà gemacht, der biologische Nach- und Ãbermensch läÃt auf sich warten, vielleicht reicht als Plattform der jetzige Homo sapiens sapiens. Wird er, im Delegationssystem fortschreitend, zum Homo stultus stultus? Was bleibt vom Menschen übrig, wenn er alle, fast alle physischen und intellektuellen Tätigkeiten, die für die Vernunft und seine Fortexistenz wichtig sind, an nichtmenschliche Systeme oder isolierte Spezialisten delegiert hat, von der Geburt zum Tod, der künstlichen Befruchtung im Leihkörper bis zum Tod durch das Selbstabschalten eines Apparats, sobald die eingegebene Kostengrenze erreicht ist? Auch dieinnere Mobilisierung ist möglich: an das Pharmakon Ritalin wird die Leistungssteigerung im Unterricht delegiert, »neuroenhancements« übernehmen andere Ausfälle der natürlichen Residualmenschen. Der Schachchip im Gehirn des neuen Weltmeisters sicherte der japanischen Firma eine Umsatzsteigerung von 153%, der Ethik-Chip sorgt für Ausgleich und heiteres Lächeln.
Die Hand- und Kopfarbeit, das Ãbel und das Kreuz der Menschen, wird unaufhaltsam an elektronisch gesteuerte Maschinen delegiert; erleichtert um ihre Bürde, tritt die Speerspitze der Menschheit, das Heer der endlich Arbeitsfreien, in das Paradies zurück.
»Wir benötigen Reflexions-Wissenschaften, die die technische Entwicklung kritisch-konstruktiv beobachten und an ihrer Gestaltung mitwirken« â feiner Gedanke, dem nur die Einsicht in die Triebkraft der progressiven Delegation und der Selbstverarmung des Menschen fehlt, denn diese ist das Ergebnis von konkurrierenden Angeboten, die Schmerzen und Mängel zu beheben. Für die Reflexion fehlt ein Subjekt, das sich in den Delegationsdarwinismus einklinken könnte.
Fides quaerit intellectum
Suchanzeige des Vatikans im Osservatore Romano : »Glaube sucht Verstand.« Der Verstand zeigte sich überrascht und erfreut und antwortete umgehend, daà er als Sklave oder Diener der Fides nicht mehr zur Verfügung stehe, an eine Hetero -Partnerschaft wohl nicht gedacht sei, aber die Rolle als Chef und Vorstand würde er übernehmen. Eine Antwort blieb aus, der Verstand wartet seit Jahren.
Alice in Wonderland
»Ich bin stolz auf die Menschheit«. AuÃer mir hat diesen Satz niemand gehört; auf dem Münchener Flughafen sagte ihn die zwölfjährige Alice, als wir beim Umsteigen von Neapel nach Berlin in die lange Halle zwischen den Gates und dem Glanz der
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