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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Brandt
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ihrem Verstand – ein unerhörter Vorgang.
Niedergang und Langeweile
    A: Sie waren auf dem letzten Germanistenkongreß und wollen über ihn berichten, wie fällt Ihr Urteil aus?
    B: Negativ, negativ. Wenn man sich an die großen Auseinandersetzungen erinnert, die Marxisten gegen die Freudianer, dann die Diskurstheorie, die Strukturalisten und alles differenziert und zerfetzt von Derridas Leuten, lauter Höhepunkte. Und jetzt? Sorgen um den Erhalt der Fächer, am abwegigsten aber die Don Quijoterie in einer Sektion ohne jedes Publikum, in der Redner wie in früheren Jahrhunderten ihre Forschungsergebnisse vorstellten, eine Quellenanalysevon Heinrich Heine, Hölderlins Verhältnis zur griechischen Lyrik, der Aufbau von Gedichten Celans – als ob es Texte ohne Theorie gäbe und Interpretationen ohne Weltanschauung. Wo bleibt das Neue, das Ikonische, der Praxisbezug? Es gibt keine großen Debatten mehr.
Schrecklich
    Lieber Herr B.,
    jetzt fand das Treffen ohne Sie statt, schade und gut, oder umgekehrt, denn alles begann glücklich und endete schrecklich. Die RedakteurInnen und die BesitzerInnen der B-Zeitung sind die geistreichsten Leute von der Welt, hier ein Lessing- Zitat, dort eine Anspielung auf Rimbaud und Kafka, dann ein Witz aus New York gegen die Viererbande in Washington, allesamt Weinkenner noch des entlegensten Jahrgangs aus einem versteckten Rhônetal, also hommes et femmes du monde et des lettres mit gefestigtem Glauben und ausgeflippten Ferienplänen. Die Kinder in Eliteschulen in der Schweiz und Südengland. Ein Idiot, der vermutlich wegen einer Namensverwechslung eingeladen war, lenkte das Gespräch auf die B-Zeitung; anfangs konnte die Situation noch mit feinem Hohn gegen die Kritiken, die sich in Jahreszyklen wiederholen, gerettet werden, aber der Gast genoß es offensichtlich, daß er ein Tabu der eleganten Welt gebrochen hatte, er insistierte: Ob die Perfidien gegen hilflose Titelopfer und die tägliche obszöne Beschmutzung der ungebildeten Leser noch zu den Gentleman-Delikten gehörten, die die Guten und Reichen und Intellektuellen unter sich nicht weiter beachteten. Ich merkte, wie die Anwesenden die inneren Stahltore schlossen, die ihnen die Sicherheit geben, wenn die Kloake, die sie erzeugen, zurückgespült wird. Der falsche Gast begann Titel der letzten Wochen auswendig zu zitieren, einen nach dem anderen – etwas so Vulgäres hatte ich noch nie gehört. Wie war das möglich? Er fragte, ob man diesen Ausbund an Menschenverachtung und Verhöhnung sittlicherGefühle nicht zum Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung machen könne.
    Eine Redakteurin rief den Kellner, man bezahlte schweigend und entfernte sich mit versteinerten Minen. Gut, daß Sie nicht gekommen waren, etwas so Schreckliches. Schöne Grüße – Ihre C.
Papyrusfund
    Ein in Pompeji gefundenes Papyrusblatt konnte mit Hilfe eines neuen Laserverfahrens fast vollständig entziffert werden; es handelt sich um einige Sätze aus einem Geschichtswerk, das kurz vor dem Vulkanausbruch offenbar von einem Griechen, aber auf Lateinisch in der Hauptstadt verfaßt wurde: » [...] folgte der Besuch eines jungen Königs aus dem Vorderen Asien, der dem Kaiser im Kapitol in Rom seine Reverenz erweisen und Geschenke überbringen wollte. Er war Anhänger einer der Philosophenschulen, die die Würde des Menschen kultivieren [ dignitatem hominis colunt ] und die Philanthropie [auf Griechisch geschrieben] lehren. In Unkenntnis der Sitten, wohlvertraut jedoch mit den Geschehnissen im Imperium, wies der König den Kaiser auf die vielen Verletzungen der Würde des Menschen und der Rechte innerhalb des Reiches hin. Dies aber verstößt gegen allen Anstand am Hof in Rom, der Kaiser war außer sich, die umstehenden Senatoren ergriffen den fremden Monarchen und stürzten ihn die Treppe des Weißen Kapitols hinab. Nach der nötigen Folter [ post torturam necessariam ] wurde er in einen Eisenkäfig mit wilden Tieren gesperrt, und der Kaiser selbst rief ihm aus der Ferne zu, jetzt möge er sehen, wie es um seine Würde bestellt sei. Das östliche Königreich wurde umgehend von römischen Truppen verwüstet; eine Delegation des Landes, die kniefällig in Rom Abbitte tun wollte, wurde nach der nötigen Folter auf eine Insel im Mittelmeer geschickt und dort in Eisenkäfigen festgehalten. Alle Senatoren stimmen dem Kaiser wegen der

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