Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Gottesprädikat, das nach dem Tod Gottes geblieben ist. Rahner verschleiert das; er versenkt ‹Macht› und die dem Menschen abgeforderte Gehorsamspflicht im ‹Geheimnis›.
Im 20. Jahrhundert hat ein merkwürdiger Gottesbegriff Karriere gemacht: Gott, sagt nicht nur Karl Barth, sei der ‹ganz Andere›. Das ist nicht mehr als eine verächtliche Phrase. Dieser Ausdruck klingt tiefsinnig und drückt doch nur Gedankenlosigkeit aus. Denn: Mein Stuhl ist anders als mein Tisch. Aber er ist nicht ganz anders; beide sind Möbel und haben eine Reihe anderer Bestimmungen gemeinsam. Nähme ich das Wort ‹ganz› genau, wäre Gott vom Nichts nicht unterschieden; nehme ich es ungenau, als wäre Gott nur ein bißchen ‹anders›, dann fällt der Ausdruck in sich zusammen. Dann ist das ‹ganz› nicht ganz im Ernst gesagt.
Solche entleerten Gottesbestimmungen stehen erbärmlich da neben Platons Idee des Guten, neben dem Denken des Denkens bei Aristoteles, neben Augustins Guten in allem Guten ( bonum omnis boni ) und Anselms id quo maius cogitari nequit . Nikolaus von Kues hat sie widerlegt, indem er sorgfältig begründete, warum Gott ‹das Nicht-Andere› ist. Wer diesen Abstand ermißt, könnte auf den Verdacht kommen, Gott sei inzwischen verstorben.
Der Gott der Philosophen verdient ein ehrendes Gedenken. Er ist heute außer bei Fachleuten für die griechische Philosophie fast unbekannt. Verständnislose Schlagwörter nennen ihn ‹abstrakt› und ‹leidenschaftslos›; Theologen spielen ihn gern aus gegen den ‹lebendigen› Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, von dem sie behaupten, sie könnten mit ihm eine persönliche Beziehung aufnehmen. Sie schwanken hilflos zwischen ihren anthropomorphen Reden unf seinem Ganz-anders-sein. Das Schicksal des Gottes der Philosophen im 20. Jahrhundert wäre eine Monographie wert; ich stelle ihn kurz vor anhand zweier Texte.
Da ist einmal Platons Gastmahl, Symposion, das ein Saufgelage ist, bei dem Reden über Eros gehalten werden. Diotima erklärt, wie die Erfahrung der Liebe zur Erkenntnis des schlechthin Guten führt. Sie nennt das Vollkommenste nicht ‹Gott›; dieses Wort reserviert sie für die Götter der Volksreligion. Die erotische Erfahrung muß beginnen mit der Leidenschaft zum Leib eines einzelnen Knaben und steigt dann stufenweise auf. Sie kommt über schöne Reden, politisches Engagement und wissenschaftliche Einsicht zum Begreifen des Ersten Schönen, dem alle Leidenschaft gilt. Diotima beschreibt es:
Erstens ist es ein Immerseiendes. Weder entsteht es noch vergeht es; es nimmt weder zu noch ab. Zweitens ist es nicht teilweise schön und teilweise häßlich, auch nicht manchmal schön und manchmal nicht. Es ist nicht in Bezug auf das eine Ding schön und auf das andere häßlich, auch nicht hier schön und dort häßlich. Seine Schönheit hängt nicht vom Standpunkt des Betrachters ab. Dieses Schöne zeigt sich nicht als ein einzelnes schönes Gesicht oder Hände oder sonst etwas am Leib. Es ist keine Aussage oder ein einzelnes Wissen. Es ist nicht auf die Verbindung mit einem anderen angewiesen, etwa auf ein Lebewesen, auf Erde oder Himmel oder sonst etwas, sondern es ist Es selbst. Es ist das an sich selbst Schöne. Es ist mit sich selbst. Es bleibt in seiner eigenen Gestalt. Es ist immer. Alles andere Schöne hat an ihm Anteil, aber während dieses andere entsteht und vergeht, wird es selbst weder mehr noch weniger. Es erleidet nichts, in keiner Hinsicht. Wenn einer auf die rechte Art Knaben liebt und von den Dingen aufsteigt, beginnt er wohl dieses eine Schöne zu sehen und hat das Ziel beinah erreicht.
Platon, Symposion 210 e 6–211 b 7
Ich habe diese wenigen Zeilen der Diotima-Rede einem großen Kunstwerk entnommen, in dem es wild und hoch zugeht. Sie sprechen vom Ziel aller erotischen Bewegung. Vorsichtig heißt es, der Liebende könne es wohl schließlich ‹berühren›. Sein eventuelles Berühren ist ein Sehen. Er vergleicht das ‹Schöne selbst› Punkt für Punkt mit sichtbarem Schönen und streift alle Momente des Werdens von ihm ab. Er blickt auf die irdischen Dinge, angefangen beim schönen Körper des Knaben und negiert Werden und Vergehen, Ort und Zeitpunkt, Relativität, jede Abhängigkeit von anderen. Wir sehen seiner Gedankenarbeit zu. Sie entgrenzt das Schöne. Sie begreift in einzelnen Schritten: Bei uns ist das Schöne immer mit Häßlichem vermischt; es erscheint einerseits schön, andererseits häßlich. Wer richtig liebt, sieht
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