Warum Mathematik glücklich macht: 151 verblüffende Geschichten (German Edition)
Psychiater Oliver Sacks widmet sich in einem Kapitel seines Kultbuches Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte den geistig behinderten Zwillingen John und Michael. Ihre Biographie ist sehr anrührend. Beide waren zwergenhaft mit stark unproportionierten Körpern, piepsigen Stimmen und erheblicher Entwicklungsverzögerung. Doch sie besaßen eine besondere Gabe: Mit bis zu 20-stelligen Zahlen jonglierten sie in einer Leichtigkeit, als wären es Bauklötze, und sie konnten unter anderem extrem schnell angeben, ob es sich um eine Primzahl handelte oder nicht. Seltsamerweise beherrschten sie andererseits aber nicht einmal die Grundrechenarten und wussten ihre Vorgehensweise leider auch nicht zu erklären, denn sie redeten, wenn überhaupt, dann nur in Zahlen. Wie mentales Pingpong warfen sie sich ständig irgendwelche Zahlen hin und her und feixten dabei, als habe jemand eine amüsante Geschichte erzählt.
Irgendwann kam Oliver Sacks darauf, dass es sich stets um große Primzahlen handelte. Daraufhin spielte er mit ihnen das folgende Spiel: Er notierte sich aus einem Buch Primzahlen, bis hin zu 6-stelliger Größe. Dann ging er zu den Zwillingen und nannte eine davon. Sofort gab John die nächste Primzahl an, dann umgehend Michael die nächst größere, dann wieder Oliver Sacks und so weiter reihum, bis Sacks die Primzahlen ausgingen. Die Zwillinge bemerkten, dass Sacks nicht weiter konnte und rezitierten unter riesiger Begeisterung weiter lange Zahlenkolonnen.
Eine andere Episode, die Sacks von den Zwillingen erzählt und die in den berühmten Film Rain Man mit Dustin Hoffman und Tom Cruise einging, ist folgende: Irgendwann fiel eine Streichholzschachtel vom Tisch und die Hölzer lagen verstreut auf dem Boden. «Hundertelf», riefen die beiden Zwillinge gleichzeitig, und John murmelte «Siebenunddreißig» und Michael wiederholte das. Sacks zählte die Streichhölzer, was einige Zeit in Anspruch nahm, und es waren 111. «Wie konntet ihr die Hölzer so schnell zählen», fragte er. «Wir haben sie nicht gezählt», antworteten sie «Wir haben die 111 gesehen.» – «Und warum habt ihr siebenunddreißig gemurmelt?» Die Zwillinge sangen im Chor: «37, 37, 37, 111.»
Die Geschichte der Zwillinge endete traurig. Man unterzog sie einer «Therapie», die sie dazu befähigte, alleine zu leben und in ihrer Heimatstadt New York selbständig Bus zu fahren, doch ihre unbegreifliche Gabe der Primzahlfindung und ihre Lebensfreude hatten sie eingebüßt.
39. Mit Mathematik sieht man mehr Wirklichkeit …
Die kuriose Erfahrung, dass eine kompliziertere Situation manchmal leichter zu analysieren ist als eine weniger komplizierte, machen wir auch bei der Beziehung zwischen Schach und dem Spiel Doppelschach, bei dem jeder Spieler zweimal hintereinander statt nur einmal ziehen darf, aber abgesehen von Details dieselben Regeln gelten wie beim normalen Schach.
Beim herkömmlichen Schach ist es eine ungelöste Frage, ob die Ausgangsstellung für Weiß bei bestem Spiel beider Seiten gewonnen oder unentschieden ist. Beim Doppelschach dagegen, als dem komplizierteren Spiel, kann man durch ein außerordentlich einfaches Argument leicht beweisen, dass die Ausgangsstellung für Weiß bei bestem Spiel mindestens Remis ist. Das geht mit einem kurzen Argument durch Widerspruch, einer Reductio ad absurdum: Angenommen, in der Ausgangsstellung mit Weiß am Zug hätte Schwarz eine zwingende Gewinnstrategie. Dann könnte Weiß durch Ziehen eines beliebigen Springers im ersten Zug und sofortiges Zurückspielen des Springers auf sein Anfangsfeld die Zugpflicht in der Ausgangsstellung auf Schwarz abwälzen, und es wäre dann Weiß, der eine zwingende Gewinnstrategie hätte. Doch das ist bereits ein Widerspruch zur getroffenen Annahme der Reductio. Das war’s schon. Eine nicht gerade enorme Idee, die aber das Moment der Durchschlagskraft für sich reklamieren kann, eine gute Kandidatin für jedes Aha!-Handbuch des schnellen, zielführenden Denkens. Zu ihren Überraschungseffekten gehört auch die Plötzlichkeit, mit der sie die Sachlage klärt. Wir sehen damit den interessanten Fall eines schwierigeren Spiels, das gegenüber dem leichteren in der betrachteten Frage einer einfachen Analyse zugänglich ist, während eine Analyse des leichteren Spiels – Schach – immer noch hoffnungslos ist. Wie lange würde es wohl dauern, die mit dieser Idee beglaubigte Erkenntnis auf empirische Weise zu erlangen? Für alle praktischen Zwecke so gut wie
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