Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
seiner Psyche. Ein großer Teil der Psychiater und Psychologen hält dieses Störungsbild generell für fragwürdig.
Ebert behauptet, dass er in sich zahlreiche verschiedene Persönlichkeiten entdeckt habe. Es sei eine dieser Persönlichkeiten gewesen, die Frauen vergewaltigte und mordete. Er könne also nichts dafür. Er ist genauso ein Opfer wie jene Frauen, die diese fremde »böse« Person in ihm umgebracht hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwierig eine Therapie mit Ebert sein kann: Er externalisiert, das heißt, er übernimmt keine Verantwortung für seine Taten. Ein Mensch, der tiefsitzende gewaltbereite und sadistische Anteile in sich trägt, ist ohnehin schwer zu behandeln, aber ein Mensch, der sich mit diesen Anteilen nicht auseinandersetzt, weil sie angeblich nichts mit ihm zu tun haben, ist überhaupt nicht zu therapieren.
Durch die Zeit in der Klinik hat sich seine Gefährlichkeit also nicht vermindert. Und wie sieht seine jetzige Lage aus? Die Fahndung lief rasend schnell an, er hatte also nicht viel Zeit, sich durch das Land zu bewegen, ohne entdeckt zu werden. Wir gehen darum davon aus, dass er sich momentan irgendwo versteckt hält und abwartet. Wie geht er mit dieser Situation um?
Ich betrachte seine Persönlichkeitsstruktur: Borderline-Anteile, narzisstische Persönlichkeitsanteile, paranoide Persönlichkeitszüge. Ein Borderliner kann seine Emotionen schwer unter Kontrolle halten, kleinste Belastungen können ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Er hat ein unstillbares Bedürfnis nach Nähe und kann es schwer aushalten, allein zu sein, auch wenn ihm Nähe und Abhängigkeit von anderen zugleich sehr viel Angst machen – Angst vor der Enttäuschung und dem Verlassenwerden. Ein Narzisst muss seine Nichtigkeitsgefühle ausgleichen, indem er sich selbst und anderen Grandiosität und Einzigartigkeit vorgaukelt, was der Realität nicht entspricht – und er reagiert unangemessen heftig auf leichte Kritik und Kränkungen. Ein Paranoider kann niemandem vertrauen und wittert überall Verschwörungen gegen sich, lebt also ständig in Angst.
Wie fühlt sich ein solcher Mensch in Eberts momentaner Lage? Einsam. Ausgeliefert. Ohnmächtig. Getrieben. Und auch gekränkt und bedroht.
Alle Zeitungen berichten über seine Taten. Er wird als gefährlich bezeichnet, Details seiner Morde werden geschildert, in Leserbriefen diskutieren Leute über die Todesstrafe für Menschen wie ihn. Ein unerträglicher Angriff auf sein grandioses Selbstbild, da er sich selbst doch als guten, aber kranken Menschen wahrnimmt. Jede Kränkung fühlt sich für einen Menschen mit Eberts Störungsbild existenziell vernichtend an. Was bedeutet das? Ich blicke nochmals auf seine Morde. Er beging sie genau in Momenten wie diesem. Als Anlass für seine Taten gab er an, dass er Streit mit seiner jeweiligen Freundin hatte, gekränkt war. Jetzt befindet er sich in einer ähnlichen belastenden Situation für sein Selbstwertgefühl. Könnte es sich um ein »Triggermoment« handeln? Ja, das kann gut sein. Es könnte in ihm brodeln. Das Einzige, was uns momentan etwas beruhigt: Noch dürfte er so intensiv mit seinem Fluchtplan beschäftigt sein, dass seine innere Unruhe in Zaum gehalten wird. Ich bespreche mit den Kollegen das Ergebnis. Sie haben bereits damit gerechnet. »Die Frage ist nicht, ob Ebert wieder morden wird, die Frage ist: Wann wird er es tun«, sagt Chefermittler Reinhard Chedor. Ich nicke.
Mittlerweile ist eine Sonderkommission mit über 50 Mitarbeitern eingesetzt worden, Ermittler, Zielfahnder, Observierungskräfte, Pressesprecher, Techniker und Juristen. Wir haben immer noch keine Spur von Eberts Aufenthaltsort oder dem Fluchtweg. Immerhin haben die Ermittlungen in der Klinik weitere Ansatzpunkte erbracht. Bei der Durchsuchung von Eberts Zimmer machen die Ermittler eine Entdeckung. Sein Adressbuch. Eine Seite ist herausgerissen. Die Seite mit »P«. Die Nummer, die auf dieser Seite notiert war, hat sich jedoch auf das darunter liegende Blatt durchgedrückt. Es ist kein großer kriminaltechnischer Aufwand nötig. Mit einem Bleistift schraffiert ein Beamter die Stelle, dann schimmern ein Name und eine Nummer durch: die Privatnummer von Sophia Papadopoulou. Wenige Tage nach Eberts Flucht wäre sie aus disziplinarischen Gründen auf eine andere Station versetzt worden. Es war also die letzte Chance, mit ihrer Hilfe zu fliehen, um dem bevorstehenden Wechsel ins Gefängnis zu entgehen. Das war vermutlich der unmittelbare
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