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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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ist
jedoch Zeichen nicht ausreichend gebildeter psychischer Funktionen. Das besorgniserregende Moment an dieser Feststellung ist jedoch nicht das Fehlen der Funktionen, sondern die durch die Reaktion der Mutter bedingte fehlende Möglichkeit für das Kind, diese Funktion einzuüben. Claudias Mutter begegnet der Situation zunächst argumentativ. Sie redet beschwichtigend auf das Kind ein, versucht, verbal eine Lösung herbeizuführen. Da das Kind darauf negativ mit einer auf sich selbst bezogenen Handlung, lautem Schluchzen, reagiert, scheint der Versuch einer körperlichen Annäherung, um auf mütterliche Weise Trost zu spenden, richtig zu sein. Das Ergebnis sind Abwehrmechanismen in Form von Schlägen.
    Claudia lernt aus dieser ganzen, 15 Minuten dauernden Szene, dass sie die Mutter in ihrer Handlungsweise bestimmen kann. Sie nimmt ihr das Heft des Handelns aus der Hand und lässt sie nach dem Prinzip von »trial and error« an der langen Leine zappeln, bis sie den Vorschlag, den »Muffin« mit nach Hause zu nehmen, für gut genug befindet, um sich abzuregen. Höhepunkte ihrer Ich-bezogenen Handlungsweise sind dann noch einmal die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich von ihrer Mutter aufhelfen lässt, obwohl sie sich selbst auf den Boden geschmissen hat, und die Zurechtweisung, dass solch eine Situation nicht noch einmal passieren dürfe. Vor allem letzteres stellt das Mutter-Kind-Verhältnis komplett auf den Kopf: Claudia wird zur Erzieherin ihrer Mutter.
    Normalerweise wäre die Situation geeignet, um psychische Funktionen wie etwa die Frustrationstoleranz bei Claudia zu trainieren. Sie müsste das Verhalten ihrer Mutter als natürliche Grenze ihres Frustes erfahren, was jedoch nur möglich wäre, wenn die Mutter autonom handelte. Da sie sich aber nach ihrem Kind ausrichtet und auf dessen Verhalten
reagiert, ist es Claudia nicht möglich, zu lernen, dass sie die erlebte Frustration aushalten und angemessen darauf reagieren muss.

Kein Einzelfall
    Claudia ist kein Einzelfall. Kinder wie sie sehe ich in meiner Praxis täglich, die Zunahme besorgniserregender Fälle ist so signifikant, dass sich in den kommenden Jahren die Auswirkungen in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben in erheblichem Maße zeigen werden. Ich werde in mehreren Fallbeispielen immer wieder illustrieren, welche Fehlentwicklungen Kinder und Jugendliche heute zeigen und warum wir diesen mit pädagogischen Konzepten und therapeutischen Bemühungen nur unzureichend Herr werden können.
    Um das Ausmaß der Fehlentwicklungen zu begreifen, ist es auch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass wir es mit einer stark veränderten Situation zu tun haben: Vergleiche ich die mir heute vorgestellten Kinder mit denen vor 20 Jahren, so ist eindeutig festzustellen, dass diese Kinder nicht mehr länger »nur« Einzelstörungen aufweisen, sondern überwiegend in mehreren Bereichen gleichzeitig gestört sind. Was das in der Realität heißt, zeigt sich an Tests, wie sie kürzlich ein mir bekannter Schulleiter an seiner Grundschule durchgeführt hat. Dort werden die Schulneulinge vor Beginn des neuen Schuljahres auf Auffälligkeiten geprüft. Die Ergebnisse dieser Überprüfung zeigen Übersichtstabellen. Auf der folgenden Seite ist eine solche Übersichtstabelle beispielhaft aufgeführt.

    Ãœbersich über das Ergebnis des Unterrichtesspiels bei der Anmeldung im Herbst des Vorjahres (2006)

    Aus dieser Darstellung ist das angesprochene große Problem deutlich sichtbar. Insgesamt handelt es sich um drei Klassen. Die exemplarisch abgebildete Tabelle zeigt dabei das Ergebnis von Klasse 1x. Lediglich vier von 25 Schülern der Klassen 1x und 1z (drei von 23 bei Klasse 1y) weisen überhaupt keine Störung auf, eine isolierte Störung kommt bei weiteren vier Kindern in der 1x (acht in der 1z bzw. drei in der 1y) vor. Alle anderen Schüler sind in mehreren Bereichen auffällig, selbst die Höchstzahl von sieben Störungen wird von zwei Schülern erreicht. 47 von 73 Schülern in den drei Klassen weisen mehr als eine Störung auf, das entspricht einer Quote von 64 Prozent, also nahezu zwei Drittel aller Schüler. Das Ergebnis des Tests braucht an dieser Stelle nicht im Einzelnen ausinterpretiert werden, auffällig ist jedoch etwa die Häufung von »starken Auffälligkeiten« im Bereich Wahrnehmung. Hier ist in allen drei Klassen

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