Warum unsere Kinder Tyrannen werden
beim Aufräumen.
Wenn ein Kind zu mir in die Praxis kommt, hat sich aus gutem Grund mein Einstieg in das Gespräch mit Eltern und Kind in den letzten zwanzig Jahren nicht verändert. Ich stelle die gleichen Fragen, lege die gleichen Verhaltensweisen an den Tag wie zu Beginn meiner Tätigkeit als Kinderpsychiater. Damit sind die Reaktionen von Kindern und Eltern über die ganze Zeit hinweg vergleichbar. Was das hinsichtlich meiner konkreten Tätigkeit bedeutet, lässt sich kurz skizzieren.
Ich befasse mich mit Kindern und Jugendlichen, die für die Eltern oder auch Lehrer und Erzieher besorgniserregende Auffälligkeiten zeigen, d.h., diese weichen nach allgemeiner Meinung von der alterstypischen Norm ab. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung der Kinder liegt zunächst in einer umfangreichen diagnostischen Einschätzung. Hierzu zählt eine Ganzkörperuntersuchung zum Ausschluss einer nicht-psychisch bedingten Erkrankung. Im Rahmen einer neurologischen Untersuchung werden etwa die Nervenleistung und der Bewegungsablauf beurteilt. Nach diesem Einstieg komme ich dann zur psychiatrischen Einschätzung des Kindes, die auf verschiedene Erkenntnisse aus ist. So prüfen wir Beziehungsfähigkeit, Gefühlslage, Denkleistungen oder Bewusstseinslagen. AuÃerdem stehen anerkannte Tests zur Beurteilung der Intelligenzleistung zur
Verfügung. Ãber Tests ist es auch möglich, den psychischen Entwicklungsstand des Kindes sowie die Bereiche Motorik und Wahrnehmung messbar zu machen. Zu den objektiven Messergebnissen kommt ein hoher Anteil an fachlich fundierter Einschätzung, da ein hoher Prozentsatz der Leistung im psychischen Bereich unbewusst abläuft. Für diesen Bereich arbeiten wir in meiner Praxis etwa mit anerkannten projektiven Tests. AuÃerdem kann bei bestimmten neurologischen Fragestellungen das so genannte Elektro-Enzephalogramm (EEG) hinzugezogen werden.
Wichtig ist auch, dass zu dieser umfangreichen einzeldiagnostischen Einschätzung des Kindes die Erhebung einer biografischen Anamnese der Eltern vorgenommen wird. Der aus dem griechischen stammende Begriff der Anamnese heiÃt zu Deutsch soviel wie Erinnerung. Mit dem Zusatz »biografisch« bedeutet das also konkret, dass die Eltern mir möglichst genau ihre eigene Lebensgeschichte vorstellen, damit aus dieser eventuell Rückschlüsse gezogen werden können, die sich in Beziehung zum Störungsbild des Kindes setzen lassen. Wichtig ist dann weiterhin eine möglichst genaue Einschätzung der Eltern/Kind-Beziehung: Wie läuft der Alltag zu Hause ab, wie sind schulische, private Dinge organisiert, wie ist der Umgangston, was wird von beiden Seiten als normal, was als unnormal empfunden? All dies und noch viele andere Dinge spielen eine Rolle. Manchmal kann auch eine Einbeziehung von Geschwisterkindern durchaus Sinn machen, um einem Phänomen auf den Grund zu kommen.
Man muss an dieser Stelle auf eine Schwierigkeit hinweisen: Es gibt im Bereich der Kinderpsychiatrie verschiedene Lehrmeinungen. Das macht die Bewertung der Ergebnisse, und auch die Vorgehensweise selbst, schwieriger als etwa auf dem Fachgebiet der Kinderheilkunde, das zum groÃen Teil nach einheitlichen Standards vorgehen kann. Es kann daher
durchaus sein, dass die hier beschriebene Vorgehensweise in meiner Praxis von der meiner Kollegen abweicht, die Sie als Leser eventuell bereits kennen gelernt haben. Das ändert jedoch nichts an der Sachlage, wie sie sich mir darstellt.
Ich beurteile also zunächst das Kind aus psychiatrischer Sicht, lerne dann die Eltern kennen und erhebe die Anamnese. Das Kind erscheint dann im Allgemeinen zu weiteren fünf Terminen und wird hierbei auch von zwei Mitarbeiterinnen gesehen, um ein möglichst breit gefächertes Meinungsbild zu bekommen. Alle Befunde werden dann im Rahmen einer Teambesprechung zusammengetragen und als Diagnose zusammengefasst, aus der sich die weiteren Behandlungsschritte ergeben.
Nur mit dieser hier beschriebenen, seit 20 Jahren unveränderten Vorgehensweise lässt sich die fatale Tendenz erkennen, nur so konnte sich mir erschlieÃen, welche ungeheuren Fehlentwicklungen die kindliche Psyche in den letzten zwanzig Jahren erfahren hat.
Die wichtigste Schlussfolgerung aus dieser Feststellung lautet: Das Denken muss die Richtung wechseln! Um sinnvoll analysieren und therapieren zu können, müssen wir wissen, wohin wir wollen, in diesem Fall
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