Was dein Herz nicht weiß
Anwesenheit erinnert.
»Nein.«
»Du warst noch nie in Europa? Nicht in London, Paris oder Istanbul?«
»Nein«, erwiderte Soo-Ja lächelnd.
»Wie steht’s mit Amerika? New York? Los Angeles? Boston?«
»Nein, auch dort war ich noch nie«, entgegnete Soo-Ja, noch immer lächelnd.
Jae-Hwa legte Soo-Ja die Hand auf den Arm und schaute sie mit den Augen einer alten Freundin an. »Als wir auf der Schule waren, wollte Soo-Ja immer reisen. Sie wäre fast auf die Diplomatenschule in Seoul gegangen, weil sie Botschafterin werden und alle Länder bereisen wollte.«
»Und, hast du das geschafft?«, wollte Eun-Mee wissen.
»Nein, es hat nicht geklappt.«
»Dann hast du es dir nicht fest genug vorgenommen. Wahrscheinlich hast du zu früh aufgegeben«, bemerkte Eun-Mee.
»Ja, wahrscheinlich«, entgegnete Soo-Ja und versuchte, damit das Thema zu beenden.
Jae-Hwa tätschelte ihr die Hand, als wollte sie sich für Eun-Mee entschuldigen.
»Schau, wenn du im Leben etwas haben willst, musst du dafür kämpfen!«, rief Eun-Mee. Soo-Ja nickte und rang sich ein Lächeln ab. »Du darfst nicht zaghaft sein. So habe ich meinen Ehemann bekommen.«
Soo-Ja sah sie an. Sie musste sich zurückhalten und der Versuchung widerstehen, denn sie hätte nur zu gern gesagt: Erzähl weiter .
»Ich bin sicher, er hat dir gleich am ersten Tag einen Antrag gemacht. Eine Frau wie du verliert keine Zeit«, sagte Jae-Hwa.
»Ich wusste es sofort, als ich ihn bei einer Gruppe von Männern vor der Universitätsklinik in Pusan stehen sah«, erzählte Eun-Mee, die sich wieder einmal in der Aufmerksamkeit ihrer Zuhörerinnen sonnte. »Er trug einen westlichen Anzug mit Bundfaltenhose, und er war so unglaublich gut aussehend und selbstbewusst, dass ich dachte: Ich will deine Mutter sein! «
»Eun-Mee!«, platzte Jae-Hwa lachend heraus.
»Ich möchte dir das Hemd in die Hose stecken, dich mit Suppe füttern, wenn du krank bist, und dir bei den Hausaufgaben helfen«, sagte Eun-Mee und wedelte mit den Armen. »Eine Frau weiß, dass sie bereit ist zu heiraten, wenn sie mütterliche Gefühle spürt!«
»Das finde ich gar nicht, aber erzähl weiter«, sagte Jae-Hwa. Keine von beiden bemerkte Soo-Jas Schweigen.
»Jedenfalls lud ich ihn zu einem Schönheitswettbewerb ein, an dem ich teilnahm, und wir begannen, uns hin und wieder zu treffen, gingen zu Musikveranstaltungen, an denen wir Seite an Seite auf samtbezogenen Stühlen saßen und Darbietungen von Bach hörten. Wir taten nicht viel – er war so keusch wie Chunhyang, die Romanfigur, und es war ja auch wie in einem Roman bei uns, denn wer würde im wirklichen Leben so lange auf einen Liebhaber warten, von dem nichts zurückkommt?«
»Da muss noch eine andere gewesen sein. Hatte er gleichzeitig ein anderes Mädchen?«, fragte Jae-Hwa. Eine Sekunde lang sah Soo-Ja nervös zu ihr rüber und fragte sich, ob Jae-Hwa von ihr und Yul wusste. Aber das konnte nicht sein; Soo-Ja hatte ihr nie davon erzählt.
»Nein, da war keine. Nur eine Erinnerung. Er hat mal von einem Mädchen erzählt, das er an der Universität in Daegu getroffen hat. Er sprach von ihr wie von einem Land, das er einmal betreten hatte und seitdem vermisste. Und auch, wenn er immer sagte, sie sei bloß eine Bekannte, wusste ich es besser. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, konnte ich ihre Anwesenheit zwischen uns spüren. Sie war die ganze Zeit über da.« Eun-Mee schwieg, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Der ganze Raum schien aus Mitleid mit ihr zu verstummen.
Es war seltsam für Soo-Ja, die eigene Geschichte aus Eun-Mees Blickwinkel zu hören, als spräche sie von einer anderen Soo-Ja, nicht von der, die in Wirklichkeit entsetzlich hilflos gewesen war. Soo-Ja hätte alles darum gegeben, mit Eun-Mee die Rollen zu tauschen; nur so konnte sie Yuls Körper spüren. Es war tröstlich zu hören, dass Yul an sie dachte, aber dieses Wissen konnte sie in einer kalten Nacht nicht wärmen. Jetzt, da sie wusste, wie verschwenderisch Eun-Mee seine Berührungen genossen hatte – jede Nacht, jahrelang! – , hatte Soo-Ja das Gefühl, regelrecht danach zu hungern.
»Hast du ihn dazu gebracht, diese andere Frau zu vergessen?«, erkundigte sich Jae-Hwa. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, setzte ihn aber gleich wieder ab. Er war kalt geworden.
»Natürlich! Es war schwierig, aber ich habe es geschafft. Es war, als würde man gegen die Sonne kämpfen – er sah sie überall.«
»Was meinst du damit?«, fragte Jae-Hwa.
»Das ist
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