Was dein Herz nicht weiß
dem nur eine Uralt-Kamera zum Einsatz gekommen war, wie Eun-Mee sich beklagte – war eine der Teilnehmerinnen versehentlich auf die Kamera zugestolpert, was prompt im Bild festgehalten wurde. Eun-Mee hatte erwartet, die Frau würde schrecklich tollpatschig auf dem Foto aussehen, aber ganz im Gegenteil: Aus der Gruppe herausgehoben, wirkte sie wie etwas Besonderes.
Beim nächsten Fototermin – anlässlich der Umbenennung des Shinsegae-Kaufhauses – beschloss Eun-Mee, für jedes Bild »versehentlich« zu stolpern. Wenn sie merkte, dass der Blitz des Fotografen unmittelbar bevorstand, warf sie sich nach vorne, als könnte sie es nicht erwarten, von der Kamera auf Film gebannt zu werden – sie kam ihr sozusagen entgegen.
Im eigentlichen Wettbewerb erreichte sie dann nur den siebten Platz. Aber die Enttäuschung darüber hielt nicht lange an. Eun-Mee war nämlich ein Mensch, der auch dann noch gewann, wenn er verlor, und sie hatte etwas wahrhaft Wichtiges gewonnen: die Aufmerksamkeit ihres zukünftigen Ehemannes.
Eines Abends beobachtete Eun-Mee, die viel Zeit in der Lobby verbrachte, wie Soo-Ja fein zurechtgemacht aus ihrem Zimmer trat. Soo-Ja und Hana wollten zu einem Gye -Treffen. Als Eun-Mee das hörte, lud sie sich sogleich selbst zum Mitkommen ein.
»Ich liebe Gye! Ich habe schon überlegt, wie ich es anstellen soll, in Seoul einer Gye-Gruppe beizutreten. Und jetzt liegt die Antwort direkt vor meinen Augen!«, rief Eun-Mee.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Meine Gruppe nimmt nämlich keine neuen Mitglieder auf«, erwiderte Soo-Ja und versuchte, sich an Eun-Mee vorbeizuschieben.
»Ach, ich bin mir sicher, sie machen eine Ausnahme für die Frau eines Arztes«, lächelte Eun-Mee. »Nur eine Minute, dann bin ich umgezogen. Geht ja nicht ohne mich!«
»Und dein Mann?«, fragte Soo-Ja, in einem verzweifelten Versuch, sie davon abzubringen.
»Ach, der muss heute länger arbeiten. Wir sind wahrscheinlich noch vor ihm zurück«, sagte Eun-Mee und rannte in ihr Zimmer.
Einmal im Monat trafen sich die Mitglieder von Soo-Jas Gye-Gruppe zu einem ungezwungenen Essen in einem Restaurant. Dort saßen sie auf langen Bänken und aßen unter dem Lichtschein roter und weißer China-Laternen Sundubu und Japchae und Seolleongtang , und noch während des Essens ging eine Freiwillige herum, die ihre Beiträge einsammelte. Am Ende des Abends durfte jeweils ein Mitglied das ganze Geld mitnehmen, und beim nächsten Mal kam jemand anderes an die Reihe.
Alle nahmen die Sache sehr ernst und verpassten niemals ihre Einzahlung, denn sonst hätten sie die Chance vertan, einmal selbst zum glücklichen Empfänger zu werden. Das Risiko, dass einer der früheren Gewinner einfach so verschwand oder sich weigerte, weiter einzuzahlen, bestand natürlich, aber solche Fälle waren selten. Die meisten Mitglieder bezahlten ihren Gewinn im Lauf der Zeit wieder zurück – denn eigentlich handelte es sich ja um ein Darlehen. Auf die Banken konnte man sich nicht verlassen – sie forderten Sicherheiten und brummten einem hohe Zinsen auf, aber mit den Freunden aus der Gye-Gruppe war es anders.
Das Ganze war einfach die Ausdehnung einer Familiensitte auf eine größere Gruppe. Soo-Jas Verwandte liehen sich alle untereinander Geld, etwa, wenn ein Cousin Startkapital für ein Geschäft brauchte, wenn eine Nichte Schulgeld bezahlen musste, oder ganz allgemein für Hochzeiten und Beerdigungen. Dann gab man Geld, aber man bekam es auch immer wieder zurück. Manche von Soo-Jas Tanten führten richtige Kladden, in denen sie genau notierten, was sie wann bekommen hatten und wem sie dafür Loyalität und Hilfe schuldeten. Die Gye-Gruppe war die logische Fortführung dieses Gedankens auf einer höheren Ebene; man unterstützte sich gegenseitig, weil man daran glaubte, dass das Geld in Bewegung bleiben sollte und man seinen Freunden helfen musste.
Als sie im Restaurant ankamen, verlangte Eun-Mee von Soo-Ja, sie allen vorzustellen, und da erlebte Soo-Ja zum ersten Mal, wie Eun-Mee ihre magische Anziehungskraft einsetzte: Sie hatte die Gabe, Fremde sofort in ihren Bann zu ziehen. In kürzester Zeit schien sie enger mit einigen der Frauen befreundet zu sein als Soo-Ja, die sie schon jahrelang kannte. Anfangs ärgerte Soo-Ja sich darüber. Aber dann war sie froh, nicht den ganzen Abend mit Eun-Mee verbringen zu müssen. Sie war sich zwar sicher, dass Yuls Ehefrau nichts von der Sache zwischen ihr und Yul wusste, aber dennoch fühlte sie sich in ihrer
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