Was dein Herz nicht weiß
Gegenwart unwohl.
Soo-Ja aß ihr Bibimbap , ein Gericht aus Rindfleisch und Gemüse mit Chilipaste, das im Topf serviert wurde, und beobachtete aufmerksam die Freiwillige, eine alte Frau, die mit unbeweglicher Miene einen Umschlag nach dem anderen einsammelte. Wenn Soo-Ja heute als Empfängerin ausgewählt wurde, konnte sie mit all dem Geld das Stück Land kaufen. (Das war der Unterschied zu anderen Gruppen: Anstatt den Gewinner zu ziehen, wählte man ihn. Wenn man also beliebt war und als vertrauenswürdig galt, kam man früher an die Reihe. Eckte man aber bei den anderen an, konnte man ewig warten. In dieser Gruppe setzte man jedenfalls auf den Charakter und nicht auf den Zufall; Soo-Ja wusste allerdings nicht, was es über die Gruppe aussagte, dass sie alle hier so wenig aufs Glück vertrauten.)
Während Soo-Ja gespannt auf den wichtigen Teil des Abends wartete, hörte sie ein Stück entfernt lautes Gelächter, gefolgt von einzelnen Glucksern, die sich wie Wellen im Raum ausbreiteten. Sie meinte, Eun-Mees Stimme zu vernehmen, und drehte sich um. Dort standen einige Frauen im Kreis, aber sie konnte nicht sehen, womit sie sich gerade beschäftigten. Von ihrem Gekicher angezogen wie von einem Sirenengesang erhob sie sich neugierig und trat zu ihnen.
Aufgeregt wie ein Kind vor einer Zirkusvorstellung versuchte sie, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Soo-Ja lächelte. Dies hier waren ihre Freundinnen; sie mochte sie und genoss es, mit ihnen Spaß zu haben. Der Kreis öffnete sich ein wenig, um sie hereinzulassen.
Es war tatsächlich Eun-Mee. Dort, wo die Gäste des Lokals ihre Schuhe auszogen, bevor sie eintraten, stand sie ganz allein wie auf einer Bühne und hielt ein Paar Damenschuhe in der Hand. Sie streckte sie weit von sich, und ihre Finger erinnerten dabei an eine Pinzette.
»Habt ihr so was schon mal gesehen? Die sehen ja aus wie aus dem Krieg! Hört her, wir haben einen Flüchtling aus dem Norden unter uns!«, rief Eun-Mee mit dem pointensicheren Timing einer Komödiantin und schwenkte die Schuhe durch die Luft, damit alle sie sehen konnten – sie waren wirklich schlimm zugerichtet. Die Riemen fielen beinahe ab, und die Sohlen hingen nur noch an einem Faden. Die Besitzerin hatte das Paar wohl schon mehrfach zusammengeflickt, weil sie es einfach nicht wegwerfen konnte.
Soo-Ja wollte gerade in das allgemeine Gelächter einstimmen, als sie die Schuhe plötzlich erkannte – es waren ihre eigenen. Dort oben wirkten sie ganz anders als an ihren Füßen, aber es waren zweifelsfrei ihre. Langsam schwand das Lächeln von ihrem Gesicht, und in ihrem Inneren breitete sich Verlegenheit aus.
»Wir brauchen nicht mehr abzustimmen, das Geld geht an die Besitzerin dieser Schuhe, wer immer sie auch ist! Sie hat es offensichtlich nötiger als alle anderen!«, fuhr Eun-Mee fort und erntete damit weitere Lachsalven. »Habt ihr so was schon mal gesehen? Dieser Riemen hier quält sich doch nur noch!« Eun-Mee berührte ihn leicht, und er begann unter ihren Händen zu erzittern. »Man sollte ihn von seinem Leid erlösen!«
Die Menge lachte wieder, und dieses Mal klang es so herzlich, dass es beinahe in einen Applaus zu münden schien. Eun-Mee lächelte und zuckte mit den Schultern, was vereinzeltes Kichern im Publikum hervorrief. Soo-Ja schaute in all die lachenden Gesichter; ihre Ohren kribbelten, als sie die allgemeine Hochstimmung wahrnahm.
Eun-Mee vollführte einen Knicks. Sie besaß die Fähigkeit einer wahren Künstlerin, sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sogar in einer Menschenmenge fiel sie auf. Soo-Ja dachte daran, dass sie selbst auch einmal diese Eigenschaft gehabt hatte, aber das war lange her.
Langsam zog sie sich von der Gruppe zurück. Sie wollte verschwinden, bevor jemand auf sie zeigte oder herausfand, dass sie die Besitzerin der Schuhe war.
»Was ist denn da drüben los?«, wollte Hana wissen, als Soo-Ja sich wieder neben sie setzte. »Darf ich auch mal hingehen und schauen?«
»Nein. Da passiert gar nichts«, antwortete Soo-Ja, die sich jetzt über ihr Essen hermachte und versuchte, die Fassung zu bewahren. »In meinem Bibimbap ist zu wenig Chilipaste. Es ist ein bisschen fade.«
Es war noch ein wenig Zeit, bis es an die Abstimmung ging; noch wurde gegessen. Soo-Ja bemerkte, dass Eun-Mee, die nicht bei ihnen hatte sitzen wollen, die Plätze gewechselt hatte und jetzt an einem anderen Tisch saß.
Eun-Mee wirkte in dem Lokal völlig deplatziert. Sie trug ein langes weißes,
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