Was der Hund sah
Urteil kommen als Vorgesetzte. Personalexperten sind der Ansicht, die Kriterien zur Beurteilung einer Leistung müssten so spezifisch wie möglich sein. Manager sollten ihre Mitarbeiter das ganze Jahr über beobachten und sich Notizen machen, um in der Bewertung subjektive, persönliche Reaktionen so weit wie möglich auszuschließen. Die Leistung lässt sich allerdings nur von jemandem beurteilen, der sie auch erkennt. Und genau das war in der chaotischen Enron- Kultur nahezu unmöglich. Die vermeintlichen Talente wurden dauernd in neue Positionen befördert und erhielten ständig neue Aufgaben. Allein durch Beförderungen lag die jährliche Wechselrate bei20 Prozent. »Weatherbabe« Lynda Clemmons, die das Geschäft mit den Wetterderivaten erfand, stieg in nur sieben Jahren von einer Händlerin über Partnerin und Managerin zur Direktorin auf und wurde schließlich Präsidentin ihrer eigenen Sparte. Wie soll jemand die Leistung einer Mitarbeiterin beurteilen, die nicht lange genug auf einem Posten bleibt, um überhaupt beurteilt werden zu können?
Deshalb basierten Leistungsbewertungen schließlich nicht mehr auf Leistung. Zu den zahlreichen Lobeshymnen, die auf Enron gesungen wurden, gehört der Bestseller Das revolutionäre Unternehmen des Managementberaters Gary Hamel. Unter anderem erzählt Hamel die Geschichte von Lou Pai, der die Elektrizitätssparte von Enron aufbaute. Pais Sektion war eine Katastrophe: Bei dem Versuch, auf den kürzlich deregulierten Märkten Strom an private Haushalte zu verkaufen, verlor Enron zig Millionen Dollar. Das Problem bestand laut Hamel darin, dass die Märkte nicht wirklich dereguliert worden waren: »Die Staaten, die ihre Märkte öffnen mussten, legten nach wie vor die Spielregeln fest und verschafften ihren Stromversorgungsunternehmen unfaire Wettbewerbsvorteile.« Niemand schien auf den Gedanken zu kommen, dass sich Pai diese Spielregeln vielleicht hätte anschauen sollen, ehe er Millionen in den Sand setzte. Prompt erhielt er eine neue Chance beim Aufbau des Strom-Outsourcings, wo er Jahre lang gewaltige Verluste einfuhr, ehe er sich mit einer Abfindung von 270 Millionen Dollar verabschiedete. Als einer der vermeintlich Besten erhielt Pai eine neue Chance, und wenn er dort scheiterte, erhielt er eben anderswo wieder eine Chance. »Bei Enron bedeutet Scheitern - selbst in der Größenordnung, die auf die Titelseite des Wall Street Journal kommt - nicht notwendig das Ende einer Karriere«, schreibt Hamel, als handele es sich um eine gute Sache. Vielleicht müssen Unternehmen, die den Mut zum Risiko fördern wollen, bereit sein, Fehler hinzunehmen. Doch wenn Talent über etwas definiert wird, das nichts mit Leistung zu tun hat, wozu dient es dann eigentlich?
3.
»Der Kampf um die Besten« ist nichts anderes als eine Rechtfertigung dafür, A-Mitarbeiter zu verhätscheln und zu hofieren. »Man muss alles tun, um dafür zu sorgen, dass sie engagiert, zufrieden und sogar glücklich sind«, schreiben Michaels, Handfield-Jones und Axelrod. »Finden Sie heraus, was sie am liebsten tun, und gestalten Sie ihre Laufbahnen und Verantwortungen entsprechend. Nehmen Sie ihnen alle Probleme ab, die sie zu einem Unternehmenswechsel bewegen könnten, etwa einen frustrierenden Chef oder ein übermäßiges Reisepensum.« Kein Unternehmen setzte diese Forderung so perfekt um wie Enron. Ein bekanntes Beispiel ist Louise Kitchin, eine 29-jährige Gashändlerin aus Europa, die überzeugt war, dass der Konzern eine Plattform für den Internethandel benötigte. Sie informierte ihren Vorgesetzten und begann, in ihrer Freizeit an dem Projekt zu arbeiten. Bald wurde sie von 250 Kollegen aus ganz Europa unterstützt. Nach sechs Monaten wurde schließlich auch CEO Skilling informiert. »Niemand hat mich um Kapital oder Personal gebeten«, erzählte Skilling später. »Sie hatten die Server schon gekauft und angefangen, das Gebäude umzubauen. Als ich davon erfahren habe, hatten sie schon in 22 Ländern Zulassungsverfahren bei den zuständigen Aufsichtsbehörden eingeleitet.« Das war, so Skilling zufrieden, »genau die Einstellung, die diese Unternehmen weiter voranbringt«.
Kitchins Qualifikation zur Führung von Enron-Online bestand nicht etwa darin, dass sie es besonders gut konnte. Sie wollte es einfach tun, und Enron war genau das Unternehmen, bei dem die Stars tun und lassen konnten, was sie wollten. »Fließende Veränderungen sind für unser Unternehmen überlebensnotwendig. Dies wird durch die
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