Was Die Liebe Naehrt
Pfarrer, als einengend erlernt hat, hat
Nietzsche eine tiefe Sehnsucht nach einer lebendigen Religion gespürt, nach einer Lust, die auch die Beziehung zu Gott prägt. Von dieser Lust, nach der er
sich sehnt, ohne sie in seiner Krankheit selbst zur Genüge erfahren zu können, ruft er aus: »Alle Lust will – Ewigkeit! … – will tiefe, tiefe
Ewigkeit.« Unter Lust versteht Nietzsche nicht das kurzfristige Erlebnis von Vergnügen. Er meint eine Erfahrung, die den ganzen Leib durchdringt, den
Menschen in Leib und Seele vibrieren lässt und das Innerste erschüttert. Diese Lust hat in sich etwas vom Geschmack der Ewigkeit, letztlich etwas vom
Geschmack Gottes. Sie weist über sich hinaus in eine religiöse Dimension. Wer die Lust mit allen Sinnen erlebt, der ahnt etwas von dem ewigen Gott, der
allein unsere tiefste Sehnsucht nach Lust zu erfüllen vermag.
Erotik und Sexualität
In der christlichen Tradition sind die beiden Begriffe Erotik und Sexualität oft miteinander vermischt worden. Beide wurden oft als
Gegensatz zur agape , zur reinen Liebe, zur göttlichen Liebe verstanden. Vor allem der evangelische Theologe A. Nygren hat den Eros als
unversöhnliche Alternative zur agape gesetzt. Die christliche Liebe – die agape – sei die Hinwendung zum Niederen, während die erotische
Liebe zum Gleichgesinnten hingehe. Doch schon Thomas von Aquin hat beide immer zusammen gesehen. Vom Ursprung her sind Erotik und Sexualität nicht
gleichzusetzen. Erotik humanisiert die Sexualität. Sie bezeichnet ihre geistig-sinnliche Dimension. Bei Platon verleiht der Eros dem Seelenwagen
Flügel. Er ist also eine Kraft, die uns antreibt, nicht nur zum Menschen hin, sondern auch über ihn hinaus auf Gott hin. Aristoteles, der andere große
griechische Philosoph, nennt den Eros die kosmische Kraft, die alles Gegensätzliche im Menschen eint und lustvoll alles Trennende zwischen den Menschen
und im Menschen überwindet. Er ist die Kraft, die den Menschen antreibt, seine eigene Bedürftigkeit und seinen eigenen Mangel aufzufüllen und so ganz zu
werden.
Das Alte Testament erzählt uns viele Erosgeschichten, so die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies oder die Liebesgeschichte zwischen Jakob und
seinen beiden Frauen Lea und Rahel. Im Hohenlied der Liebe wird die erotische Liebe zwischen Mann und Frau in wunderbaren Bildern besungen. Das Neue
Testament greift dieses Lied auf die erotische Liebe auf, wenn Johannes in seinerErzählung von der Begegnung mit Maria von Magdala und
Jesus das dritte Kapitel aus dem Hohenlied gleichsam auf eine andere Ebene hebt. Die Auferstehungsgeschichte ist für Johannes eine erotische Geschichte,
die Geschichte vom Sieg der Liebe über den Tod. Die christliche Tradition hat – vor allem seit Augustinus – die Erotik verdächtigt, sie sei Selbstliebe,
sie sei sündiges Begehren des rein Körperlichen. Doch die Mystik hat die erotische Dimension der christlichen Spiritualität immer wieder betont. Heute
wäre es sicher eine wichtige Aufgabe, Erotik und Spiritualität wieder miteinander zu verbinden, statt sie als Gegensätze zu sehen. Der Benediktiner und
Moraltheologe Bernhard Stoeckle begründet dies: »Der gläubige Mensch kann mit seinem Gott nicht in Übereinstimmung leben, wenn er nicht alle guten Gaben
Gottes zu würdigen weiß. Zu diesen Gaben gehört gewiss auch das Geschenk des Eros.«
Tantrismus und Mystik
Im Tantrismus, einer im Hinduismus entstandenen Weltanschauung, der es um die Überwindung der Dualität und die Erfahrung der Einheit
geht, wurden Techniken entwickelt, die Sexualität anzustacheln, ohne sie ganz auszuleben. Man hat die Sexualität gleichsam verfeinert und kultiviert,
damit sie frei von Gier und zum reinen Ausdruck von Liebe, zur Darstellung der angestrebten Einheit wird. Im Christentum haben wir keine entsprechenden
Techniken entwickelt. Die Mystik wusste zwar um die spirituelleDimension der Sexualität und sie hat die Erfahrungen des Einswerdens mit
Gott in einer erotischen Sprache beschrieben. So spricht Mechthild von Magdeburg (1208–1282) vom Minnelager, das Gott der Seele bereitet. Sie benennt
das Einswerden des Menschen mit Gott als »süße Umarmung« oder als »Kuss des Geistes«. Die niederländische Mystikerin Hadewijch von Anvers (1230–1260)
schildert ihr Einswerden mit Christus wie das Einswerden von Mann und Frau in der sexuellen Liebe: »Er nahm mich ganz in seine Arme und drückte mich an
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