Was die Nacht verheißt
damit der Plan des Doktors funktionierte, er wirklich die Möglichkeit ins Auge fassen musste, eines Tages wieder gehen zu können. Genau genommen würde er das wirklich glauben müssen. Und wenn er das tat, würde seine Hoffnung endgültig geweckt.
Er würde jedes bisschen Energie, den ganzen Willen, den er je besessen hatte, einsetzen. Und wenn er das tat - und dann versagte -, war er sich nicht sicher, ob er es schaffen würde, sich damit abzufinden, dass er den Rest seines Lebens als Invalide verbringen musste.
Schon beim ersten Mal war sein ganzer Wille nötig gewesen.
Und Briannes stetige Bemühungen, ihn wieder heilen zu lassen.
Er fühlte sich natürlich nicht heil, nicht wirklich. Aber er hatte doch einen großen Schritt getan und angenommen, was Gottes Wille zu sein schien, und gelernt, damit zu leben. Jetzt stand die Verlockung vor ihm, und sein Leben war wieder in Aufruhr.
Wieder gehen zu können, wieder gesund zu sein. Wenn er seine Beine wieder gebrauchen konnte, konnte er alles zurückgewinnen, was er verloren hatte, alles, was er je gewesen war.
Und dann war da noch Brianne.
Auch sie hatte er verloren, obwohl er nicht gern dachte, dass er sie in derselben Weise verloren hatte wie sein geliebtes Leben auf See und sein Schiff. Es war nicht dasselbe, sagte er sich. Sie war eine Frau. Es konnte einfach nicht dasselbe sein. Aber es tat ihm weh, sie jeden Tag zu sehen. Es tat so weh, dass es seinen ganzen Körper erfasste und er sogar Angst hatte, sie zu berühren.
Aber der Schmerz wäre noch größer, wenn sie fortginge.
Der Gedanke traf ihn hart, wie aus dem Nichts. Er wollte es nicht glauben, wollte nicht daran denken, dass er so abhängig von einer Frau geworden war, dass er sie so sehr brauchte. Er sah sie vor seinem inneren Auge vor sich, die weiche Rundung ihrer Lippen, die Art, wie ihr Mund zitterte, wenn er sie küsste, ihre feinen Züge und ihr feuriges Haar. Er stellte sich vor, wie er sie damals auf der Seehabicht geliebt hatte, und spürte plötzlich Schuldbewusstsein. Er hatte sie an Bord seines Schiffes nur benutzt. Er hatte sie begehrt, und er hatte sie genommen.
Wenn er die Herausforderung des Doktors annahm, würde er sie wieder benutzen.
Ein greller Blitz erleuchtete die herbe Landschaft von Cornwall vor dem Fenster. Ein ferner, grollender Donner folgte, der hallend über den felsigen Boden rollte.
Marcus hörte dem Donner zu und dachte an Brianne. Mein Gott, er hatte nie vorgehabt, sie zu berühren, hatte sein Bestes getan, um ihr zu widerstehen. Doch er konnte es damals nicht, und er konnte es jetzt nicht. So sehr er auch hasste, es zuzugeben, aber er brauchte sie. Sie gab ihm Kraft, wenn er glaubte, seine letzte Energie verbraucht zu haben. Sie gab ihm Mut, wenn er glaubte, ihn verloren zu haben. Sie wirkte in ei-ner Weise nährend auf ihn, die er sich nie hätte träumen lassen. Und er war sicher, dass er ohne ihre Hilfe versagen würde.
Wirklich, wenn er es genau bedachte, war er in diesen letzten Wochen, seit Brandy nach Hawksmoor House gekommen war, fast zufrieden gewesen. Dann war Hamish Bass erschienen und hatte seine Welt noch mehr auf den Kopf gestellt, als sie je gewesen war.
Marcus’ Hand, die auf dem Bett lag, ballte sich unwillkürlich zur Faust, und die Muskeln seiner Brust spannten sich zu eisernen Bändern. Die Bitterkeit stieg ihm wie Galle in der Kehle auf, und ein so starkes Verlangen nach Rache, dass ihm beinah schwindelig wurde. Er würde alles tun - absolut alles um den Mann zu finden und zu vernichten, der seine Welt so völlig zerstört hatte.
Marcus dachte an jenen namenlosen, gesichtslosen Mann, und das Schuldgefühl, Brianne zu benutzen, verschwand. Er brauchte sie, um wieder gesund zu werden. Sie war seine beste Chance zum Erfolg. Er würde tun, was er tun musste.
Der Doktor begann sein Programm am folgenden Tag, nachdem er zugestimmt hatte, bis zum Ende der Woche zu bleiben. Er würde sich darum kümmern, Brandy anzuleiten und die nötige Ausrüstung zu entwerfen, dann würde er monatlich wiederkommen, um zu sehen, wie sich Marcus entwickelte, vielleicht auch öfter, wenn nötig.
Da im Stall ein Schmied und ein Küfer arbeiteten, war es kein Problem, die nötigen Geräte zu bauen: ein stabiles Paar paralleler Balken, die Marcus benutzen konnte, um sich daran hochzuziehen, eine große hölzerne Wanne, um seine Beine zu baden, einen speziellen Tisch, um darauf zu liegen, und einen Stuhl, den der Küfer auf Räder setzte, damit er sich bewegen
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