Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
seine große Schwester nicht wiederkommen wird; seine Unwissenheit hat er eingebüßt. Ein- oder zweimal ertappe ich ihn dabei, wie er gedankenverloren ins Nichts starrt, und denke, wie schön es doch ist, dass man Kindern seines Alters die Gedanken noch am Gesicht ablesen kann, fast als hörte man, wie sich die Zahnräder im Kopf drehen. Ich frage mich, wann genau wir lernen, uns zu verschließen – wahrscheinlich nach und nach, mit der Zeit –; die Fähigkeit zur Verschleierung unserer Gedanken muss uns wohl graduell zufallen, bevor wir überhaupt begreifen, was für eine Fähigkeit das ist und wie viel sich damit erreichen lässt.
Eines Nachmittags, während Rees und ich zusammen zu einem frühen Abendessen im Captain’s Fish Table sind, spreche ich das Thema Chloe an. Rees hat Hähnchennuggets von der Kinderkarte gegessen, und ich hatte Schellfisch mit Pommes frites bestellt, obwohl ich weiß, dass sich mir nach ein paar Bissen der Magen umdrehen wird. Mir ist die Fähigkeit, Fett zu verdauen, abhandengekommen. Während wir reden, habe ich gerade unauffällig die Panade von meinem Schellfisch gepult und Fischstückchen auf Rees’ Teller geschoben. Vielleicht isst er sie aus Versehen mit. Verstohlen beäuge ich den Fisch auf seinem Teller, die schwarzen Äderchen in dem weißen Fleisch. Mein Mund würde mich verurteilen. Ich nehme ein Pommes-frites-Stäbchen in die Finger und versuche es in das Ketchupschälchen zwischen uns zu tunken, doch es ist bereits kalt, als ich es in die Soße stippe, und knickt um.
»War es nett bei Daddy und Chloe?«, frage ich mit vollem Mund, damit sich die Frage wie von ungefähr anhört.
Rees sieht mich misstrauisch an. »Chloe hat dauernd geweint, aber sie hat uns Cheerios essen lassen. Jeden Morgen.«
»Uns?«
»Daddy und mich.«
»Ich hab nicht gewusst, dass Daddy Cheerios mag.«
Rees nickt feierlich, hocherfreut, mir an Wissen über die Frühstücksgewohnheiten seines Vaters überlegen zu sein.
»Warum hat Chloe denn geweint?«
Rees zuckt mit den Schultern. Warum machen Erwachsene irgendwas?
»Haben sie überhaupt über Betty geredet?«
»Nicht richtig«, sagt er. »Sie haben drüber geredet, wie sich Harry mal so doll eingekackert hat, dass es an den Seiten von der Windel auf seinen Schlafanzug rausgekommen ist.«
Danach redet Rees nur noch über Harry. Er hat Harry ein Smartie in den Mund gesteckt, und Chloe hat losgeschrien, und Daddy hat »Nein, Rees, nicht« gesagt, aber es war nicht seine, Rees’, Schuld, er hat nicht gewusst, dass Babys keine Smarties dürfen. Als Daddy den Finger reingesteckt und das Smartie rausgeholt hat, da hat Harry angefangen zu schreien, also hat er es bestimmt gemocht, und er findet es gemein von ihnen, es ihm zu verbieten. Harry kann sitzen und in die Hände klatschen, aber man muss noch ein Kissen hinter ihn stecken, damit er nicht nach hinten umkippt. Harry mag fernsehen. Dann klatscht er ganz doll. Rees mag er am allerliebsten auf der ganzen Welt. Rees bringt ihn auch dann zum Lachen, wenn Daddy und Chloe das nicht schaffen.
Rees ist regelrecht vernarrt. »Wann können wir zu Harry?«, fragt er nicht weniger als dreimal während des Essens.
»Fehlt dir Chloe, seit sie weg ist?«, frage ich leichthin, als wir mit dem Hauptgericht fertig sind und auf sein Eis und meinen Kaffee warten.
Er runzelt die Stirn, zuckt die Achseln. »Sie ist ganz nett. Sie kann gut malen. In ihren Spaghettis sind Stückchen drin. Die sind zu scharf. Sie hat mir mal was davon abgegeben. Ich hab das Scharfe geschmeckt.«
David ist von der Arbeit freigestellt und könnte Rees und mich theoretisch auf manchen unserer Ausflüge begleiten, mit Harry, aber ich will nichts überstürzen. Ich weiß, dass ihn die Suche nach Chloe sehr beschäftigt und er genug damit zu tun haben wird, mit ihren Freunden und Verwandten zu reden und Toni zu helfen; also warte ich ab, bis er sich bei mir meldet. Die Plakataufrufe in der ganzen Stadt, die polizeilichen Ermittlungen – bislang war alles ohne Ergebnis. Die Folgeartikel in den nächsten Ausgaben der Lokalzeitung erwähnen Chloes private Probleme. David ruft mich fast täglich an, vordergründig, um mit Rees zu sprechen und mich über die Ereignisse auf dem Laufenden zu halten, aber ich weiß, dass er mich braucht, und nehme irgendwann all meinen Mut zu der Frage zusammen: »Warum gehen wir morgen nicht zusammen mit den beiden Jungs raus?«
Im Lauf der nächsten Wochen verbringen wir allmählich immer mehr Zeit
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