Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
Kuhfänger hinblättern konnte. Dieser Fahrer, dieses gesichtslose mythische Wesen, das ich aus meinen Gedanken verbannt hatte, ist keine Schattengestalt mehr, kein graues Gespenst, das kam, um meine Betty zu holen. Er nimmt Form an, gewinnt Konturen mit jeder neuen Information, die ich über ihn erhalte.
Ich weiß nicht, ob Bradley erraten kann, was in meinem Kopf vorgeht, jedenfalls ergänzt er: »Dass er mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, ist nicht erwiesen, Laura.«
»Ich weiß«, gebe ich knapp zurück. Plötzlich habe ich einen Verdacht. »Warum sagen Sie das?«
Bradley seufzt.
»Er ist vorbestraft, stimmt’s? Kein Ersttäter.« Ich fische im Trüben.
Bradley setzt seine Brille ab und betrachtet sie gründlich, so als gehörte sie ihm nicht. Er wirft einen Seitenblick aus dem Fenster, setzt die Brille wieder auf und nimmt mich erneut ins Visier. »Laura«, sagt er, »Sie müssen entschuldigen, aber ich rede hier in amtlicher Funktion mit Ihnen.« Er bringt das eher zum Zweck der Verschleierung als dem der Bestätigung vor, aber ich weiß, dass es beides ist.
Ich fahre die Strandpromenade entlang zurück. Zwar würde ich gern anhalten und am Strand spazieren gehen, aber Julie wird Rees bald nach Hause bringen. Ich muss zurück. Während ich langsam dahinschleiche und immer mal wieder auf das unruhige, graue Meer hinausschaue, übersehe ich, dass das Warnlicht an dem Fußgängerüberweg blinkt. Eine Gruppe Jugendlicher von dem Typ, der in der Imbissbude herumhängt, schlendert schon über die Straße. Ich bremse abrupt. Das Auto kommt schlitternd zum Stehen, der Motor säuft ab. Auf einmal umzingeln sie den Wagen, zwei von ihnen schimpfen mit obszönen Gesten, die anderen sehen mit mürrischen, ausdruckslosen Gesichtern zu. Einer der beiden Lauten, der Größte von ihnen, beugt sich vor und lässt seine Faust auf meine Motorhaube niedersausen. Sein höhnisch grinsendes Gesicht nähert sich bedrohlich der Windschutzscheibe, eine längliche weiße Fratze unter einer braunen Mütze, über seine Wangen ziehen sich Aknepickel in einem Bogen, die Augen sprühen Funken. Er nennt mich eine blöde Fotze. Ich bin geneigt, ihm recht zu geben. Er lässt sich Zeit damit, von meinem Fenster wegzugehen, und als es endlich so weit ist, geht mein Atem so stoßweise, dass ich ein Weilchen brauche, ehe ich den Motor wieder anlassen kann. Langsam fahre ich nach Hause, das Herz hämmert in meiner Brust.
Als ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, verebbt das Adrenalin wieder, das bei dem Vorfall ausgeschüttet wurde, und meine Beine beginnen zu zittern. Ich wünschte, ich hätte eine von Tonis Zigaretten. Ich weiß, dass mich heute Nachmittag nach den Massen von Energie, die ich am Vormittag verbraucht habe, Dunkelheit umfangen wird, so sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt. So war es nach meinem Ausflug zum Spielplatz und nach Willows Totenfeier. Alles andere als allein zu Hause sein strengt mich so über die Maßen an, schlaucht mich, liefert mich vollkommen den Fängen dessen aus, das mich ergriffen hat, seit meine Tochter getötet wurde. Getötet wurde . Von jemandem getötet wurde. Nicht einfach nur gestorben ist. Sich nicht in einem Rauchwölkchen in Luft aufgelöst hat. Sie war ein ganzer, lebendiger Mensch, hatte ein Leben, war mein Leben, bis jemand im Auto dahergefahren kam und sie umgebracht hat.
Dann sehe ich ihn, auf der Fußmatte, einen kleinen weißen Umschlag. Ich hebe ihn auf, erkenne die Papierart und Form, das Merkmal, dass mein Name nirgends draufsteht. Ich öffne das unbeschriftete Kuvert und falte das DIN -A4-Blatt auseinander. Darauf steht, ausgedruckt in der üblichen Schriftart, nur ein Satz – wie beim letzten Mal wieder nur ein Satz; zurzeit ist sie recht kurz angebunden.
Wie ich höre, bist du ganz schön verrückt geworden.
In dieser Nacht wache ich nach ein oder zwei Stunden Schlaf auf, wie in den meisten Nächten. Ich liege lange in Bettys Bett auf dem Rücken, ehe ich ihre Nachttischlampe anknipse, einen sich drehenden Seestern, und meine Uhr von ihrem Nachttisch nehme. Es ist 2.34 Uhr.
Der rotierende Seestern wirft orange Dreiecke an die Zimmerwände. Langsam streifen sie die Wand gegenüber, wandern über die Decke und die andere Wand hinab. Die hypnotische Wirkung ist beabsichtigt – diese Lampe haben wir, seit Betty ein Baby war. Damals lag Baby Betty in ihrem Bettchen und strampelte sich in den Schlaf, während die orangefarbenen Dreiecke sie umtanzten. Manchmal
Weitere Kostenlose Bücher