Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
…
Natürlich hätte Emily sich damit trösten können, dass die beiden längst tot waren, aber das war natürlich Unsinn. Im Gegenteil, der Tod machte alles nur noch schlimmer, weil sie nicht mehr mit Richard darüber sprechen konnte. Er hatte alle Geheimnisse mit ins Meer genommen. Sie hatte ihren Mann verloren und wusste nicht, warum.
Wie immer, wenn Emily unsicher war, suchte sie Rat in ihrem Gedächtnis. Sie wusste, in diesem Archiv konnte sie alles finden. Auch ihre letzten Gespräche mit Richard. Hatte er damals etwas gesagt, das ihr einen Hinweis hätte geben können?
Sie schloss die Augen und ließ sich wieder durch die Zeit fallen.
Am 23. Juni vor zwölf Jahren war Richard verschwunden. Am Tag davor waren sie beide noch gemeinsam auf einem Jazzkonzert in der Burgruine von Mont Orgueil Castle gewesen. Über dem glitzernden Meer hatte die Sonne ihr letztes sanftes Licht ausgesandt. Das alte Gemäuer und die Menschen schienen wie rötlich angestrahlt zu sein. Im Gewühl waren sie vielen Menschen begegnet, die sie kannten. Auf dem unteren Burghof, wo sonst die Vorführungen der Falkner stattfanden, swingten fünf junge Musiker und sorgten für gute Laune.
Emily lehnte sich mit dem Rücken an die Burgmauer, hörte selig zu und fühlte sich wunderbar jung. Wenigstens für ein paar Stunden versuchte sie zu verdrängen, dass ihr am nächsten Morgen dieser Termin bei Professor Riddington in der Klinik bevorstand, wegen ihres schrecklich perfekten Gedächtnisses. Heute wollte sie noch einmal unbeschwert sein.
Spontan streckte sie den Arm aus, zog Richard zu sich heran und versuchte ihn zu küssen. Doch er wich ihr aus, denn in diesem Augenblick entdeckte er Mary-Ann Farrow auf der anderen Seite des Platzes und winkte ihr zu.
»Hast du gesehen?«, rief er gegen die Musik an. »Da drüben ist Mary-Ann!«
»Och, du bist unromantisch«, beschwerte sich Emily. »Siehst du, jetzt kommt sie zu uns rüber.«
Geschickt drängelte Mary-Ann Farrow sich durch die Menschenmenge. Für Anfang vierzig war sie immer noch sehr schlank. Sie trug weiße Jeans, ein weißes Polohemd und weiße Bootsschuhe, sodass sie wie eine Seglerin aussah, obwohl sie es gar nicht war. Emily hatte sie noch nie so gut angezogen gesehen. Auch sonst hatte sie sich stark verändert. Ihre dunklen Haare waren jetzt anders geschnitten, aus den fusseligen Strähnen, über die sie früher immer gejammert hatte, war eine Art Bubikopf geworden.
»Hallo ihr zwei!«, sagte sie fröhlich, dann küsste sie Emily auf beide Wangen. Richard dagegen gab sie keinen Kuss, stattdessen lächelte sie ihm lange und intensiv zu. Er sagte nichts, sondern lächelte nur zurück.
»Bist du allein hier?«, fragte Emily.
»Du weißt doch, ich bin immer allein«, antwortete Mary-Ann seufzend. »Meine Mädels haben mich neulich sogar schon gefragt, ob ich vielleicht gar keine Männer mag.«
»Wie Teenies sich das eben so vorstellen«, sagte Emily amüsiert.
Richard lachte. Als er sah, dass die Musiker ihre Instrumente zur Seite legten, um eine Pause zu machen, zeigte er auf den provisorisch aufgebauten Stand, der als Bar diente.
»Wie wär’s mit einem Drink? Geht ihr mit rüber?«, fragte er.
»Gerne«, sagten beide Frauen gleichzeitig.
Sie schlenderten auf die andere Seite. Die ersten Gäste kamen ihnen mit Gläsern in der Hand entgegen.
»Arbeitest du eigentlich immer noch in diesem Kinderheim?«, fragte Emily.
»Ja. Aber das Heim würdest du gar nicht mehr wiedererkennen. Die Stadt hat es komplett renovieren lassen. Genau genommen leite ich jetzt eine moderne Großküche. Und immer komme ich erst nachts nach Hause. Es ist ziemlich stressig geworden.«
»Zeit, dein Leben zu verändern, meinst du nicht?«, sagte Richard, der zwischen ihnen ging, mit seltsam herausforderndem Blick.
Sie lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht.«
Bestimmt hat sie einen Liebhaber, dachte Emily. Sie würde es ihrer Jugendfreundin wünschen, denn Mary-Ann hatte es immer schwer gehabt im Leben.
Richard schien Vergnügen an diesem Spiel mit Mary-Ann bekommen zu haben. In provozierendem Ton bohrte er weiter:
»Und wie würdest du leben wollen, wenn du dürftest, wie du willst?«, fragte Richard.
»Jetzt hör doch mal damit auf«, meinte Emily etwas genervt. Um sie herum war nur Fröhlichkeit. Doch Mary-Ann schien die Fragerei nichts auszumachen.
»Nein, lass ruhig … Wie würde ich leben wollen …« Sie dachte nach. Dann antwortete sie mit ernstem Gesicht: »So, dass ich es nie
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