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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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wunderschönen, unberührten Dschungel, als wir Geräusche unten in einer tiefen Rinne hörten. Wir verschanzten uns und bildeten hastig eine Verteidigungsstellung. Nach ein paar Minuten intensiven Lauschens wandten sich mir der Truppführer und der vorgeschobene Artilleriebeobachter zu, ein junger Lance Corporal, der ein extrem guter Kartenleser war, weshalb er das Artilleriefeuer dirigierte. Die beiden lächelten. »Es ist eine Transporteinheit der Schlitzaugen«, flüsterte der VB [26] .
    Ich war ein NFG [27] , aber nicht dumm. Also wusste ich, dass es um einen Witz gehen musste, auch wenn ich keine Ahnung hatte, um was für einen. »Okay, lassen Sie hören. Hier gibt es kilometerweit keine Straßen.«
    »Elefanten. Die Schlitzaugen benutzen sie als Lasttiere.«
    »Ernsthaft?«
    »Aber sicher.«
    Nun, das konnte sein. Ich hatte davon gelesen. Ich versuchte zu ergründen, was das für unsere Patrouille und mich bedeutete, als der Artilleriebeobachter sagte: »Es ist ein legitimes Ziel. Für gewöhnlich gebe ich da einen Feuerauftrag. [28] Okay, Sir?«
    Ich wollte weder weich noch unentschieden erscheinen. Es war meine erste Patrouille, mein Debüt, meine Premiere. Und so wirkte ich komplett unentschieden und weich und sagte: »Sind Sie sicher, dass es ein legitimes Ziel ist?«
    »Klar. Das machen wir immer so. Die Schlitzaugen benutzen sie wie Lastwagen.« Und ich willigte ein. Mein erster Feuerauftrag in Vietnam richtete sich gegen eine nicht gesehene »Schlitzaugen-Transporteinheit«, eine Gruppe Elefanten.
    Als die ersten Granaten fielen, hörte ich das Schreien der Tiere, die in Panik durch den Busch stürmten. Ich brach den Auftrag ab und schämte mich so, dass ich mit der Patrouille nicht mal in die Rinne stieg, um den angerichteten Schaden zu begutachten. In der Intensität des Krieges sehen wir, wie gewöhnliche kleine Übel durch nichtige Gründe – weil jemand nicht als Weichling und inkompetent erscheinen will – zu Gräueln werden, indem zum Beispiel unschuldige Tiere verletzt werden.
    Praktisch sind wir alle mit dieser Art von »Kurzschluss-Training« aufgewachsen, das uns dazu befähigt, komplexere neurologische Verknüpfungen des Mitleids durch einfache, direkte, triviale Bedenken, Bedürfnisse und Wünsche zu ersetzen. Wie also überwinden wir diese Umgehung des Mitleids?
    Es gibt eine körperliche und eine rituelle Methode.
    Die körperliche Methode ist ziemlich einfach. Sie verlangt nur, dass wir jedes Mal, wenn wir eine Entscheidung fällen, die zum Verlust von Menschenleben und zu einem Blutbad führen könnte, den bewussten Versuch unternehmen, neben unserem visuellen auch alle übrigen Sinne zu verwenden. Unsere nicht visuellen Sinne sind noch nicht so abgestumpft wie unser Sehen. Ein Ausflug des Kongresses in die Kampfzone wäre etwas, wofür ich als Steuerzahler gerne zahlen würde, solange der Ausflug nicht nur bis ins Hauptquartier führt. Leider ist das aber fast immer der Fall, weil die Kongressmitglieder nur anreisen, um den Menschen zu Hause sagen zu können, dass sie da gewesen sind, und nicht, um zu sehen, was sie mit ihren Entscheidungen angerichtet haben. Geh durch ein niedergebranntes Dorf, in dem die Hunde nicht gefüttert wurden, und du kannst sie die Toten fressen
hören.
Wenn das deine Konditionierung noch nicht durchbricht,
rieche
den Gestank verfaulenden menschlichen Fleisches.
Lausche
dem Jammern eines Kindes, das seine Eltern und seine Familie verloren hat, und lass dich davon in den Wahnsinn treiben, weil du es nicht aus den Ohren bekommst, bis du weggehst oder das Kind tötest. Hebe Stücke toter Körper auf und
fühle
die wahre Bedeutung des Ausdrucks »totes Gewicht«. Diese Sinne sind noch nicht von den visuellen Medien betäubt, sondern mit dem Herzen verbunden.
    Die zweite Methode ist ritueller Natur. Als ich Homers
Ilias
las, war ich verblüfft, wie viel Zeit die alten Krieger mit ihren Riten zubrachten. Wenn sie nicht gerade einem Gott oder einer Göttin ein Opfer darbrachten, verbrannten sie einen toten Kameraden mit seiner Rüstung. In der
Táin Bó Cúailnge,
dem irischen Pendant zur
Ilias,
geht praktisch jedem Zusammentreffen die rituelle Kennzeichnung von Steinen mit dem Ogham, dem alphabetischen System des alten Irland, voraus. Pfähle werden in Wasserläufe getrieben, Köpfe auf Pfähle gesteckt. Während unserer Kampfeinsätze müssen wir Zeit dafür finden, über das Geschehene nachzudenken. Ich wünschte, der Kompaniechef hätte uns nach jeder Aktion

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