Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was geschah mit Angelika H.

Was geschah mit Angelika H.

Titel: Was geschah mit Angelika H. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
Vom Netzwerk:
meinte Markesch, »aber mir steht es nicht zu, über die Motive meiner Klienten zu spekulieren. Ich werde dafür bezahlt, daß ich meinen Job mache, das ist alles.«
    »Natürlich.« Doktor Roth zögerte kurz. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen? Meine Zeit ist knapp, und ich …«
    »Nur noch eine. Wie ist das Verhältnis zwischen Angelika und ihrem Halbbruder?«
    Verblüfftes Schweigen. »Halbbruder? Ich höre jetzt zum erstenmal von einem Halbbruder. Sind Sie sicher, daß …«
    »Nicht ganz. Jedenfalls gibt es einen Fredy Boruschka, der sich als ihr Halbbruder ausgibt und ebenfalls nach ihr sucht. Und der gute Mann scheint dabei vor Gewaltanwendung nicht zurückzuschrecken.«
    »Seltsam! Ich verstehe das nicht. Ich meine, ich kenne die Familie seit fünfzehn Jahren, und niemand hat je etwas von einem Halbbruder erwähnt. Möglicherweise ist es nur ein Mißverständnis.«
    »Ich werde es herausfinden. Vielen Dank, Doktor Roth – und bei Gelegenheit bringe ich Ihnen die Goldene Couch vorbei.«
    Er legte auf und griff nach dem Glas Raki.
    Der Fall wurde immer mysteriöser. Nach Doktor Roths Schilderung war Angelika Hilling der reinste Sonnenschein und längst über den Tod ihrer Eltern hinweg, während sie laut Bikshu Arupa ein hoffnungsloser Fall war, alkohol- und tablettensüchtig, dem Selbstmord nah. Nur in ihrer Meinung über den alten Hilling waren sich die beiden einig. Aber inwieweit war Arupa zu trauen? Schließlich hatte er keinen Hehl daraus gemacht, daß er eine Rückkehr Angelika Hillings ins großväterliche Haus für eine Katastrophe hielt. Warum sollte er dann ausgerechnet ihm, der den Auftrag hatte, eben dafür zu sorgen, bei der Suche helfen?
    Und wie paßte dieser mysteriöse Halbbruder ins Bild, von dem niemand etwas gehört hatte?
    Markesch zahlte den Raki und verließ den türkischen Grill.
    Die Böen waren stärker geworden. Die Markise des Straßenhändlers am Severinstor knatterte unter den Windstößen wie ein frisiertes Moped. Obwohl die Temperatur in der letzten halben Stunde um zehn Grad gefallen war, hatte die Natur ihren matten Versuch aufgegeben, für winterlichen Schneefall zu sorgen. Es nieselte nur noch zaghaft, und dann hörte auch der Nieselregen auf.
    Mit gesenktem Kopf stemmte sich Markesch den Böen entgegen. Von Sekunde zu Sekunde wurde das Heulen und Pfeifen lauter, und als er endlich in seinem Auto saß, fühlte er sich wie ein Schiffbrüchiger in einem winzigen Rettungsboot, ziellos auf dem sturmgepeitschten Meer des Lebens treibend, mit einem Rettungsring an Bord, auf dem das wenig vertrauenerweckende Wort TITANIC stand.
    Und er hatte nicht einmal ein Funkgerät dabei, um den Seenotrettungsdienst zu rufen.
    Aber er bezweifelte, daß man seinen Notruf überhaupt hören würde. Manche Menschen konnten ein Leben lang SOS funken, ohne eine Antwort zu bekommen, und irgendwie hatte er das Gefühl, daß er einer von diesen Menschen war.
    Er ließ den Motor an und fuhr los.
    Zum Glück gab es für einen Schiffbrüchigen noch andere Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen – die Flaschenpost. Und inzwischen war der Tag weit genug fortgeschritten, um die nächste Flaschenpost auf den Weg zu schicken.
    Empfänger: Fredy Boruschka, der Schlagetot von Chorweiler, der auf so wundersame Weise Angelika Hilling zu einem Halbbruder verholfen hatte.

 
5
     
    Chorweiler war der geographische und städtebauliche Nordpol von Köln, eine monströse Wohnmaschine weitab jeglicher Zivilisation, scherenartig von den Asphaltbändern der A1 und der A57 umschlossen, ein Getto am Ende der Welt, als hätten die Architekten den Ehrgeiz gehabt, eine Pulverkammer für den sozialen Sprengstoff des Rheinlands anzulegen.
    Die Trabantenstadt war in den frühen siebziger Jahren entstanden und sofort nach der Fertigstellung zu einer halben Investitionsruine verkommen. Hochhäuser wie Grabsteine, Wohnungen wie Käfige, eine Infrastruktur wie im abgelegensten Teil der Sahara und eine Kriminalitätsrate wie nachts um zwölf im New Yorker Central Park hatten nur die Ärmsten der Armen nach Chorweiler ziehen lassen, die nichts zu verlieren und schon gar nichts zu gewinnen hatten. Langzeitarbeitslose, deren einzige Daseinsberechtigung es noch war, für die Sicherung der Arbeitsplätze in der Spirituosenindustrie zu sorgen; lebenslange Sozialhilfeempfänger ohne Hoffnung oder Perspektive, im sozialen Netz gefangen, wo sie sich die Langeweile mit der Erhöhung der Geburtenrate vertrieben; Obdachlose, vom

Weitere Kostenlose Bücher