Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
und zusammengesackt er auf seinem Stuhl gehockt hatte. Und das hier wäre noch schlimmer. Ich konnte mir kaum etwas Traumatischeres vorstellen, als entführt zu werden, und ich wusste aus Erfahrung, wie schwer es war, so etwas zu überwinden.
Aber wenn ich es Joseph nicht sagte, konnte ich auch meiner Mutter nichts davon erzählen. Nicht nach meinem Arm und den Tabletten. Sie würde mir niemals glauben.
Also traf ich eine Entscheidung. Ich sah Joseph im Rückspiegel an. »Ich glaube, wir sollten lieber nichts davon erzählen. Sonst flippt Mom aus – richtig, meine ich. Womöglich lässt sich dich aus Angst nicht mehr Fußball spielen.« Ich hatte entsetzliche Gewissensbisse bei diesen Lügen, aber die Wahrheit konnte Joseph zerbrechen, und ich würde nicht diejenige sein, die ihm das antat. »Und Dad verklagt wahrscheinlich die Schule oder so was in der Art. Vielleicht ist es besser, wenn du dich einfach draußen neben dem Pool abduschst und dich dann ins Bett legst. Und ich sage Mom, du hättest dich gestern Abend nicht gut gefühlt und mich gebeten, dich abzuholen.«
Joseph nickte hinter mir. »Okay«, sagte er gleichmütig. Er vertraute mir so sehr, dass er mich keinen Augenblick infrage stellte. Mir wurde die Kehle eng.
Noah bog in unsere Straße ein. »Hier ist deine Haltestelle«, sagte er zu Joseph. Als Noah in den Leerlauf geschaltet hatte, stieg mein Bruder aus und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Joseph ging zur Fahrerseite hinüber und streckte den Arm durchs Fenster. Dann schüttelte er Noah die Hand. »Danke«, sagte er und zeigte beim Lächeln seine Grübchen. Dann ging er zum Haus.
Ichbeugte mich zum geöffneten Beifahrerfenster hinab und sagte: »Wir reden später, ja?«
Noah zögerte und sah dabei weiter geradeaus. »Ja.« Aber dazu bekamen wir keine Gelegenheit.
Vor dem Haus holte ich Joseph ein. Sämtliche Wagen standen jetzt in der Einfahrt. Joseph duschte im Garten und wir kletterten durch mein Fenster ins Haus, um niemanden aufzuwecken. Mein Bruder fand es lustig und schlich mit übertriebenen Bewegungen durch den Flur, als wäre das Ganze ein Spiel. Er machte die Tür hinter sich zu und legte sich vermutlich ins Bett.
Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging, was er über all das dachte oder warum er mich so leicht davonkommen ließ. Doch ich war restlos erschöpft und konnte nicht einmal anfangen, mir darüber Gedanken zu machen. Ich schälte mich aus meinen Klamotten und stellte die Dusche an, merkte aber, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Ich ließ mich unter dem Wasserstrahl zu Boden sinken und zitterte, trotz des heißen Wassers. Mit leerem Blick starrte ich auf die Kacheln. Mir war nicht schlecht. Und ich war auch nicht müde.
Ich wusste nicht mehr weiter.
Als das Wasser kalt wurde, zog ich mir ein grünes T-Shirt und eine gestreifte Pyjamahose an und ging ins Wohnzimmer, in der Hoffnung, die dumpf-dröhnende Gedankenleere in meinem Hirn durch Fernsehen vertreiben zu können. Ich sank auf die Ledercouch und schaltete die Glotze ein. Während im Hintergrund die Nachrichten liefen, arbeitete ich mich durch die Programmübersicht, aber außer Teleshopping-Sendungen wurde wenig geboten.
»In Everglades City berichten Einwohner am heutigen Morgen von einem gewaltigen Fischsterben.«
Bei der Erwähnung von Everglades City wurde ich hellhörig. Ich drückte die Programmübersicht weg und richtete Augen und Ohren auf die Fernsehsprecherin, die aussah, als wäre sie aus Plastik.
»Die herbeigerufenen Biologen sind der Ansicht, dass die Ursache auf Sauerstoffmangel im Wasser zurückzuführen sei. Schuld daran ist vermutlich eine verblüffende Anzahl toter Alligatoren.« Das Bild wechselte zu einer sommersprossigen blonden Frau in Kakishorts, die ein Mikrofon in der Hand hielt und sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden hatte. Sie stand vor einem merkwürdig vertraut aussehenden trüben Gewässer. Die Kamera zoomte auf die toten Alligatoren, die mit den weißen Bäuchen nach oben im Wasser trieben, und auf Hunderte von Fischen ringsum.
»Die Zersetzung einer großen Menge organischer Substanzen im Wasser verbraucht ungeheuer viel Sauerstoff, was Fische, die sich in der Nähe aufhalten, innerhalb von Stunden töten kann. In diesem Fall verhält es sich natürlich so, dass das, was die Alligatoren getötet hat, auch die Fische getötet haben könnte. Es handelt sich also sozusagen um eine Henne-oder-Ei-Frage.«
Jetzt meldete sich das Nachrichtenmodel wieder:
Weitere Kostenlose Bücher