Was habe ich getan?
Bedauern hatte niemand sie auf den Dresscode hingewiesen. Sie strich sich mit den Handflächen in dem Bemühen über die Hüfte, die Falten aus ihrem Rock mit dem albernen Druckmuster glatt zu streichen, und schob sich ihre billige Baststrandtasche über die Schulter. Sie kam sich eher für eine Schulfete gekleidet vor als in karibischem Schick. Einheimische Männer in marineblauen Bermudashorts und leuchtend weißen Polohemden standen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, da und warteten darauf, dass einer der Gäste sie heranwinkte. Entweder um einen neuen Drink zu ordern oder einen Rat zu erbitten, wo man gut zu Abend essen konnte.
Kate kam schnell zu dem Schluss, dass die beste Überlebenstaktik darin bestand, sich zu verstecken. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, an den Bars herumzusitzen, einer dieser Frauen in die Arme zu laufen oder auf einer Sonnenliege Konversation machen zu müssen: Ich bin Debbie. Wir kommen aus New York, dem Bundesstaat. Mein Mann? Ach, er ist im Bankgeschäft. Ja, zwei Söhne – einer besucht die Militärakademie, er will Pilot werden, und der andere studiert in Harvard Betriebswirtschaft. Ob es unser erstes Mal ist? Nein, unser sechzehntes Mal. Wir lieben die Inseln einfach. Und Sie?
Ich bin Kate. Aus England. Es ist meine erste Reise hierher, gewöhnlich fahre ich nach Cornwall, in die Hafenstadt Padstow. Mein Mann – ist verstorben. Oh, nein, das braucht Ihnen nicht leidzutun, ich war diejenige, die ihn umgebracht hat. Genau genommen bin ich gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Meine Kinder? Ach, die reden nicht mehr mit mir, weil ich ihren Dad ermordet habe und so … Tja, ich finde Ihren Bikini einfach fantastisch!
Kate sah voraus, dass dieser Wortwechsel nicht zum Austausch von Adressen und Weihnachtskarten führen würde. Stattdessen suchte sie Orte auf, die andere Touristen mieden. Die meisten wollten sich höchstens eine kurze Strecke von einer mit einem Papierschirmchen verzierten Piña Colada oder einem Restaurant mit Klimaanlage entfernen, um sich die Beine zu vertreten, sie jedoch nicht.
Kate verbrachte die ersten beiden Tage mit Ausflügen zum Strand, wo sie an der Küste entlangwanderte und dann in die Ruhe ihres Hotelzimmers zurückkehrte. Sie lag auf ihrem riesigen Bett und staunte über den Luxus, der sie umgab. Das Zirpen und Piepen der Tierwelt lullte sie in den Schlaf. Am dritten Tag stieß sie auf eine wahre Goldgrube: Pigeon Island. Das war das Paradies, von dem sie immer geträumt hatte: eine ruhige Oase mit den alten Ruinen einer britischen Bergfestung mitten in der Dschungellandschaft.
Der Weg zum Fort schlängelte sich bergauf und ermöglichte es Kate, erstaunt eine Vielzahl von Bäumen zu betrachten, die sie noch nie gesehen hatte, Bäume mit Namen wie Flammenbaum und Bogenhanf. Sie setzte ihren Weg ohne Probleme bis zum Wachturm fort. Der steile Anstieg war nach den Tagen der Untätigkeit eine willkommene sportliche Betätigung. Allein auf einem Mauerabschnitt in der Mittagshitze sitzend, beobachtete sie die weißen Boote auf dem Meer mit winzigen Wasserskifahrern im Schlepptau, die wie Püppchen von Modelleisenbahnen über das Wasser hüpften. Sie fuhr mit den Fingern über den warmen Granitbrocken, auf dem sie hockte. Wie sie da in der leichten, dem Po angepassten Kuhle saß, fragte sie sich, wie viele Hände den Stein in den zweihundert Jahren, seit er hierher gebracht worden war, berührt hatten.
Kate überlegte, welch übermenschliche Anstrengung es bedeutet haben musste, diesen gigantischen Felsbrocken vom Deck eines Schiffes die ganze Strecke bis zum Gipfel des etwa einhundert Meter hohen Hügels zu befördern. Sie stellte sich die Männer mit gebräunten, schweißglänzenden Muskeln vor, die unter der erbarmungslosen karibischen Sonne schleppten und ächzten und während der Plackerei vielleicht an ferne Häfen und ihre Lieben auf dem feucht glänzenden Pflaster ihrer englischen Heimat dachten. Es machte sie ein wenig traurig, dass diese Anstrengungen herabgewürdigt wurden, indem dieser Teil des Wachturms zum Sitzplatz für müde Hinterteile verkam.
Sie fand es unwirklich, dass sie noch vor wenigen Wochen gegen weiß glänzende Wände, gegen Gefängnisgitter und leuchtend blaue Bodenfliesen gestarrt und auf das Quietschen von Schuhen mit Gummisohlen gelauscht hatte, wenn die Wärterinnen nach Einbruch der Dunkelheit in den Gängen patrouillierten. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass für die Insassen in
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