Was im Leben zählt
Schlaflosigkeit eingeschlafen. Ich war zu erledigt von der ungeheuren Belastung – mein Vater, meine Visionen, meine Ehe –, um wirklich tief und fest zu schlummern, aber trotzdem sauer, als er anrief und mich aus dem ersehnten Halbschlaf riss.
Aber Sonntag kommt er zurück, und ich bin fest entschlossen, ihn zum Bleiben zu bewegen, eine Antwort auf sein Gefühl der Stagnation und einen zwingenden Grund zu finden, der ihn daran hindert, uns hier rauszureißen und nach Seattle zu verfrachten.
Die Schachtel aus dem Keller meines Vaters steht inzwischen unter meinem Schreibtisch. Nach der Vision von Susanna habe ich das staubige Ding die Kellertreppe hinaufgetragen, auf die Rückbank geworfen und mitgenommen. Seit ich endlich eine vage Vorstellung davon habe, wie die Sache funktioniert, brauche ich dringend mehr Antworten. Ich muss unbedingt tiefer in das Wie, das Was, das Warum eintauchen. Für mich, die ich mein Leben lang immer nur die Fragen anderer Leute beantwortet habe, anstatt meine eigenen zu stellen, fühlt sich diese frisch entdeckte Neugierde unstillbar an, fast übermächtig, ein keimender, sich stetig ausbreitender Same in meinem Inneren, hungrig und lebendig.
Ich hole die Schachtel unter dem Schreibtisch hervor und lasse sie aufs Sofa fallen. Eine kleine Wolke aus Staub und Schmutz von vielen schmuddeligen Teenagern wirbelt auf. Winzige Krümel taumeln zu Boden, und ich schiebe sie mit der Kante meines Turnschuhs unters Sofa. Soll sich die Putzfrau darum kümmern.
Ein lauter Donnerhall zerreißt die Luft. Dann prasseln wie aus dem Nichts dicke Regentropfen gegen das gekippte Fenster. Vereinzelte Tropfen prallen vom Rahmen ab, fliegen herein und laufen an der Wand entlang auf den Heizkörper zu. Ich lege einen Stapel Fotos auf ein Kissen – es sind wieder die Bilder aus jenem Sommer, das Foto von Tyler in Siegerpose zum Beispiel –, packe behutsam die Einzelteile der Kamera aus und lege sie vorsichtig auf den Schreibtisch, eins nach dem anderen. Hier ein Objektiv. Und da noch eins. Und da der Blitz, den ich manchmal bei Tag benutzt habe, um das Bild überzubelichten und den Objekten einen ganz besonderen Reiz zu verleihen, sodass sie überirdisch wirkten, fast engelhaft. Ich nehme das Objektiv zur Hand und drehe am Rädchen für die Brennweite – klick, klick, klick – immer schneller, bis das Geräusch meditativ wird, transzendent, und ich erinnere mich an die Ruhe, die dieses Ritual früher auf mich ausstrahlte.
Klick-klick-klick. Dann schneller. Klick-klick-klick-klick-klick.
Ich drehe die Rädchen, immer wieder, denke darüber nach, wie sauer ich war, als ich Tyler gestern Abend in der Bar endlich ans Telefon bekam, im Hintergrund Musik von Quiet Riot und das Grölen angetrunkener Männer, die irgendein Baseballspiel im Fernsehen kommentierten. Ich hatte zwar meine Periode erwähnt, aber mit keinem Wort von dem deprimierenden, demoralisierenden, negativen Schwangerschaftstest und meinem Gefühl erzählt, dass Tyler auf einmal so weit weg von unserem Leben war – Bier saufen und Quiet Riot hören! – , kein Wort davon, dass ich bangend auf der Mädchentoilette hockte, während meine kleine Schwester vor der Tür auf mich wartete, und dass ich dankbar für ihren Beistand war, weil mein eigener Mann nicht bei mir war, der Mann, der an meiner Seite hätte sein sollen.
Klick-klick-klick. Das Objektiv dreht sich wie von selbst in meinen Händen. Wie ist es möglich, dass ich mein halbes Leben mit einem Mann verbracht habe, der auf einmal so scharf vom Kurs all meiner – unserer – Pläne abweicht? Wie kann es sein, dass ich zwar plötzlich in die Zukunft sehen kann, aber nicht in der Lage war, all das schon lange kommen zu sehen? Klick-klick-klick.
Hinter mir räuspert sich jemand.
«Entschuldigung. Störe ich?»
Ich fahre herum. Eli Matthews steht in der Tür, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern nach vorne gebeugt, was ihm bei einem Meter achtzig etwa fünf Zentimeter nimmt.
«W-was? Oh, nein. Hallo», stammle ich. «Entschuldigung, ich war nur gerade etwas in Gedanken.»
«Alles okay?», fragt er und macht einen winzigen Schritt nach vorn. Seine Brauen sind sorgenvoll gefurcht, und ich muss eine wahre Sturzflut von Tränen zurückdrängen, weil er mich durchschaut hat, völlig mühelos. Nein, nichts ist okay! Gar nichts!
«Alles gut», sage ich, lege das Objektiv zurück auf den Tisch und stoße mir die linke Hand. «Nur … nur in Gedanken.»
«Wow! Eine alte
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