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Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)

Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)

Titel: Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Flasch
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wird in ihr ins Dasein gerufen; er wird durch sie in seiner Natur geprägt und gestärkt; er wird in ihr zur Einsicht und zur Vereinigung mit ihr geführt. Dies wird im Laufe der weiteren Definitionen von den Geschöpfen gesagt: Der Kommentar zu Satz VIII spricht von Vereinigung und von Liebe des Menschen zum Unendlichen, aber Spruch II nimmt keinen Bezug auf den Menschen. Noch weniger überträgt er die Unendlichkeit von der Gottkugel auf die individuelle Seele. Das Historische Wörterbuch der Philosophie teilt in Band 9 Spalte 1377 mit, Meister Eckhart habe die These II aufgegriffen, um die Unendlichkeit von der universalen Sphäre auf die individuelle zu übertragen. Der dafür zitierte Text aus dem ersten Genesiskommentar (LW I, S. 305)[ 24 ] gibt das nicht her. Es fragt sich auch, ob es vernünftig gewesen wäre, wenn er diese Ansicht enthielte.
    Eckhart hatte bei der Auflösung der Vorstellung vom endlichen Raum andere Probleme. Er musste mühselig volkstümliche Vorstellungen korrigieren, zum Beispiel diese: Es wird uns gepredigt, wir sollen die Dinge suchen, die ‹oben› sind. Wo sollen wir suchen? Wo Christus sitzt zur rechten Hand des Vaters. Wo sitzt er? Er « sitzt nirgends. Wer ihn irgendwo sucht, findet ihn nie ».[ 25 ]
    Blicken wir noch einmal auf die beiden ersten Sätze zurück: Die Einheit, hieß es, erzeugt eine Einheit. Von Erschaffung war nicht die Rede. Diese Ureinheit bezieht sich auf sich zurück. Was sie kennzeichnet, ist Selbstbezug und Unendlichkeit. Der Kommentar zu Satz II stellt klar, dass wir diese Unendlichkeit nicht verstehen sollen als das In-sich-Zurücklaufen der Kreislinie, sondern als philosophische Zerstörung der Kreisvorstellung. Diese unendliche Kugel kennt keine Mitte; jeder Punkt ist Mittelpunkt; denn These XVIII ergänzt: Jeder dieser Punkte setzt um sich eine unendliche Kugel. Jeder Punkt ist gleichberechtigt. Gott ist nicht der Mittelpunkt; er ist die Gesamtheit der unendlich vielen Punkte. Und er ist ganz, da unteilbar, an jedem einzelnen Punkt. Wer oder was diese Punkte sind, bleibt hier offen. Sind es Seelen, sind es Intellekte, sind es Monaden oder Intelligenzen? Sie haben keinen Horizont. Vielmehr haben sie einen unendlichen Horizont, was auf dasselbe hinausläuft. Es ist keine Mitte mehr da, der man sich annähern und von der man dann sagen könnte, man stehe näher bei Gott. Vom Schalensystem des Kosmos ist nicht die Rede. Die beiden ersten Sätze treiben nicht Kosmologie, sondern Ontologie oder philosophische Theologie. Sie zerdehnen die bisher endliche, bewohnte und bemessene Welt ins Unendliche; sie weiten sie aus zu Gottes Unendlichkeit. Satz VI führt diesen Gedanken rigoros durch: Auch bisher als Substanzen angesehene Wesen wie Baum oder Mensch sind nur Erscheinung dieser Unendlichkeit. Sie verlieren ihren substantiellen Halt in sich. Sie sind nur etwas im unendlichen Meer der Gottheit. Es gibt nur eine Substanz. Man scheut sich, den Namen Spinozas als Vergleichspunkt zu nennen. Dazu ist der Text zu knapp. Jedenfalls inszenieren die Sätze I, II und VI, zusammen mit XVIII, einen Bruch. Sie zertrümmern den Bildervorrat von Jahrhunderten. Sie zerstören die Vertrautheit, in der man zu wissen glaubte: Unten liegt die endliche Welt, oben thront ein unendlicher Gott. Die Dualität ist aufgehoben. Statt Rangordnungen gibt es nur die unbegrenzte Einheit mit unendlich vielen Mittelpunkten, die produktiv jeweils unendliche Kugeln hervorbringen.
    Die Sätze I, II, VI und XVIII sprechen von Gott. Sie skizzieren eine philosophische Theologie und eine neuplatonisierend konstruierte Trinitätslehre. Alle erlösungstheologischen Motive fehlen. Von Christus, vom Kreuzestod, gar von Kirche ist nicht die Rede. Die Kommentare zu I, II, VI, VIII, XXI und XXIII nennen Gott prima causa , erster Grund, oberste Ursache. Das war nicht immer ein Name Gottes. Zeno Kaluza zufolge kommt er aus der arabischen Philosophie, besonders von Avicenna, und bezeichne den Ursprung des Flusses ( fluxus ) der Welt.[ 26 ]
    In Dantes Comedia bildet die Erde den Mittelpunkt des Alls, und im Mittelpunkt der Erde steckt Satan, eingefroren in ewigem Eis. Den Verfasser des Liber hätte man fragen müssen: Gibt es in deinem System keine Hölle mehr? Wenn es eine Hölle gäbe, wäre dein Gott auch in der Hölle. Unser Text tut so, als könne er Gott ohne christliche Heilsgeschichte definieren. Wer ihn in einer mehr schulmäßigen Umgebung fortführen wollte, gar in einer Umgebung, die durch die

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